Wer das neue grüne Parteiprogramm aufmerksam liest, erhält einen Einblick in zwei Welten: Die eine bemüht sich um konstruktive Vorschläge, um industriebasierten Wohlstand auch in einer klimaneutralen Gesellschaft zu sichern. In der anderen scheinen alte Stereotype durch. Entsprechend ist das Programm stärker von Regulierungsbemühungen als von Vertrauen in Marktprozesse geprägt. Ein Überblick über die wichtigsten wirtschaftspolitischen Vorschläge.
1. Innovationen
Grünen-Vorschlag: Innovative Start-ups müssen besser gefördert werden, unter anderem mit einem Wagniskapitalfonds, einer innovationsfreundlichen Steuerpolitik, schnellen Planungs- und Genehmigungsverfahren und einer digitalen Verwaltung. Für Forschung soll mehr Geld bereitstehen.
IW-Bewertung: Jede Investition in diesem Bereich ist willkommen. Im Grundsatz sind die Vorschläge begrüßenswert. Ob und inwieweit die Verwaltung auch digital funktionieren kann, ist fraglich.
2. Klimaschutz
Grünen-Vorsachlag: Der CO2-Preis soll bis 2023 deutlich auf 60 Euro je Tonne steigen. Der Kohleausstieg soll 2030 kommen, nicht erst 2038. Das deutsche Klimaziel soll auf 70 Prozent weniger Emissionen im Vergleich zu 1990 angehoben werden. Der Verbrennermotor wird ab 2030 verboten.
IW-Bewertung: Schon bei einem Kohleausstieg bis 2038 drängt die Zeit für ein Konzept, wie die Reviere fit für eine Zukunft ohne Kohle gemacht werden. Bis 2030 bleibt noch weniger Zeit für den nötigen Strukturwandel. Wenn Deutschland sein immer höheres Klimaziel zudem erreichen will, braucht es mehr Investitionen in erneuerbare Energien, Recycling und die energetische Sanierung. Für mehr Elektroautos auf den Straßen fehlen noch viele Ladesäulen. Klimaschutz darf sich nicht auf ambitionierte Ziele und Regulierungen fokussieren, sondern bedarf guter Investitionsbedingungen für eine modernisierte Industrie.
3. Bildung
Grünen-Vorschlag: Jedes Kind erhält einen Kitaplatz, Mindeststandards stellen die Qualität sicher. Grundschüler haben Recht auf einen Ganztagsplatz. Digitale Bildung wird gestärkt. Das Bafög wird umgebaut zu einer Grundsicherung in Ausbildung und Studium. Jeder erhält einen Rechtsanspruch auf Weiterbildung.
IW-Bewertung: Grundsätzlich sind die Vorstöße begrüßenswert. Der Bafög-Umbau würde einen kompletten Systemwechsel beinhalten, was nicht unbedingt nötig wäre: Die Ziele würden auch erreicht, wenn das jetzige System gestärkt würde. Der Rechtsanspruch auf Weiterbildung käme einer Abkehr der Bedarfsorientierung gleich.
4. Arbeit und Soziales
Grünen-Vorschlag: Der Mindestlohn steigt sofort auf zwölf Euro. Zeitarbeiter erhalten den gleichen Lohn wie Stammbeschäftigte. Es gibt ein Recht auf Homeoffice. Statt Vollzeit soll eine sogenannte Wahlarbeitszeit (30 bis 40 Stunden) Standard werden. Statt Hartz IV gibt es eine Garantiesicherung, die ohne Sanktionen auskommt.
IW-Bewertung: Eine Anhebung des Mindestlohns kommt insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen, die stark von der Krise getroffen wurden, teuer zu stehen – es droht eine höhere Arbeitslosigkeit. Die grundsätzlich gleiche Bezahlung von Zeitarbeitern berücksichtigt nicht die Produktivität. Das Recht auf Homeoffice und die Wahlarbeitszeit greifen in die betrieblichen Dispositionen ein. Hartz IV hat sich im Grundsatz bewährt.
5. Wohnen
Grünen-Vorschlag: Nach dem Vorbild Wiens sollen mehr gemeinnützige Wohnungen entstehen. Erhöhungen der Bestandsmieten sollen auf 2,5 Prozent pro Jahr begrenzt, die Mietpreisbremse entfristet und der Betrachtungszeitraum im Mietspiegel auf 20 Jahre erhöht werden. Die Grunderwerbsteuer soll für Selbstnutzer sinken. Es gilt das Bestellerprinzip für Makler.
IW-Bewertung: Von Gemeinnützigkeit profitieren oft Haushalte mit höherem Einkommen. Die Förderungen für gemeinnützige Wohnungsunternehmen sind sehr teuer: Allein Berlin müsste rund 1,5 Milliarden Euro pro Jahr zusteuern. Die Grünen-Pläne machen die Mietpreisbremse zu einem Mietenstopp. Es drohen ein massiver Verkauf von Mietwohnungen an Selbstnutzer, Schwarzmärkte und Qualitätsverlust aufgrund zu weniger Investitionen. Dies wird noch verstärkt mit der geplanten Senkung der Modernisierungsumlage auf 1,50 Euro, womit sich energetische Maßnahmen nicht mehr lohnen. Begrüßenswert sind die niedrigeren Erwerbsnebenkosten. Sie erleichtern den Zugang zu Wohneigentum.
6. Gesundheit
Grünen-Vorschlag: Ein neues Bundesinstitut für Gesundheit soll die Versorgung verbessern. Eine Bürgerversicherung ersetzt das bisherige System. Pflege soll ambulanter und attraktiver werden: Erwerbstätige, die jemanden pflegen, können sich bis zu drei Monate freistellen lassen und erhalten in dieser Zeit Geld vom Staat.
IW-Bewertung: Wie soll das finanziert werden? Die Bürgerversicherung wird nicht im Detail vorgestellt. Die Eigenverantwortung (Paragraph 1 des fünften Sozialgesetzbuchs) rückt in den Hintergrund. Demografisch bedingte Mehrausgaben lassen sich nur über weiter steigende Beitragslasten und Steuerzuschüsse finanzieren.
7. Rente
Grünen-Vorschlag: In der gesetzlichen Rente bleibt das Rentenniveau von 48 Prozent bestehen. Die Finanzierungslücke soll über höhere Steuerzuschüsse geschlossen werden.
IW-Bewertung: Selbst wenn alle länger und mehr Frauen in Vollzeit arbeiten würden, lässt sich dieses Versprechen nur über höhere Beitragssätze finanzieren. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass der Beitragssatz in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts über die 20-Prozentmarke klettert und im nächsten Jahrzehnt über 22 Prozent steigen muss – um dann ein Rentenniveau von eher 45 Prozent finanzieren zu können. Höhere Steuerzuschüsse machen die ehemals beitragsfinanzierte Rente stärker von der Kassenlage des Fiskus abhängig.
8. Ehegattensplitting
Grünen-Vorschlag: Für neu Verheiratete soll die Steuerklasse 5 entfallen, künftig soll eine Individualbesteuerung mit übertragbarem Grundfreibetrag gelten. Alle bereits Verheirateten dürfen zwischen dem Status quo und dem neuen Modell wählen.
IW-Bewertung: Was sehr modern anmutet, sollte nicht mit den erhofften Anreizeffekten für die erwerbswilligen Ehepartner begründet werden. In der empirischen Simulation erweist sich dieser Effekt als gering.
"Die Grünen wollen einerseits ihre Stammwähler zufriedenstellen und andererseits Regierungsfähigkeit beweisen", sagt IW-Direktor Michael Hüther. "Neben konstruktiven Vorschlägen wie einem Wagniskapitalfonds für Start-Ups und dem Rechtsanspruch auf Ganztagsplätze für Grundschulkinder finden sich alte Stereotype vor allem in Form undifferenzierter Forderungen an Unternehmen. Bei potenziellen Streitpunkten wie etwa der Frage, wie Windkraftausbau auch gegen den Widerstand der betroffenen Bürger vonstatten gehen soll oder wofür genau 50 Milliarden Euro pro Jahr investiert werden sollen, bleibt das Wahlprogramm Antworten schuldig."
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