Menschliche Schicksale und Konflikte zu beschreiben, das ist eine der wichtigsten Aufgaben und Angelegenheiten von Literatur. Wann und unter welchen Zeitumständen leben die Helden? Mit welchen Voraussetzungen, Hoffnungen und Träumen betreten sie das Feld der Handlung? Welchen Schwierigkeiten sehen sie sich gegenüber? Welche Gelegenheiten nutzen sie und welche Gelegenheiten nutzen sie eben nicht? Und nicht zuletzt: Wie verändern sich die literarischen Heldinnen und Helden im Verlauf der jeweiligen Geschichte? Um genau solche Fragen geht es in der Literatur – und auch in den fünf aktuellen Angeboten, die wie immer eine Woche lang zum Sonderpreis im E-Book-Shop www.edition-digital.de (Freitag, 12.03. 21 – Freitag, 19.03. 21) zu haben sind. So lernen die Leserinnen und Leser zum Beispiel im dritten Sonderangebot Ermina und Arno und deren schwierige Liebe kennen. Obwohl sich beide auf einem Neulehrerkurs kennenlernen und anfangs beide auch als Lehrer tätig sind, entwickeln sie sich in den folgenden Jahren sehr unterschiedlich und verfolgen sehr unterschiedliche Ziele. Dennoch bleiben sie zusammen. Aber warum? Antworten auf diese Fragen gibt Holda Schiller in ihrem ungewöhnlichen Roman „Das Leben scheidet, nicht der Tod“.

Schwierigkeiten mit seinem strengen Vater und die zeitweilige Abwesenheit seiner Mutter bringen in „Alwin auf der Landstraße“ von Bernd Wolff einen zwölfjährigen Jungen dazu, einen Aus- und Aufbruch zu wagen – auf seinem Fahrrad.

Ein neuer, recht außerordentlicher Fall erwartet Diplom-Kriminalistin und Privatdetektivin Mildred Sox in „Zahltag. Detektei Rote Socke, Band 3“ von Hans-Ulrich-Lüdemann.

Dem eigenen Leben ist Walter Kaufmann auch in seinen Berichten über seine Fahrten nach und durch Israel auf der Spur – „Reisen ins gelobte Land“.

Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Und da hat die Literatur schon immer ein gewichtiges Wort mitzureden und heute erst recht. Wieder einmal geht es heute um die Rolle von historischen Persönlichkeiten und um die große Frage von Krieg und Frieden. Was konnte ein Herrscher tun? Und was hätte er tun sollen? Mit dem Blick auf das Leben und die Entscheidungen zweier großer Herrscher und Gegenspieler des 18. Jahrhunderts wird eine ganze Epoche beleuchtet. Und zugleich lässt sich etwas lernen über die Mechanismen der Macht und über die Gründe von Krieg und Frieden. Und damit sind wir wieder in der Gegenwart – selbst manche Mittel der internationalen Auseinandersetzungen unterscheiden sich nicht so sehr von denen der damaligen Zeiten.

Erstmals 1978 veröffentlichte Heinz-Jürgen Zierke im damaligen VEB Hinstorff Verlag Rostock seinen Historischen Roman „Karl XII.“: Der Nordische Krieg. Auseinandersetzungen im Ostseeraum zu Anfang des 18. Jahrhunderts. Polen, Lettland, dann Sachsen, Russland und die Türkei sind die Hauptschauplätze des turbulenten Geschehens um den schwedischen König Karl XII. Zar Peter I. ist sein historischer Gegenspieler. Poltawa bringt die Entscheidung: für Schweden und Russland, für das Kräfteverhältnis in Nord- und Osteuropa. Karl, der glänzende Siege erfocht, für sich, nicht für das hungernde Schweden, erhält in diesem Roman einen Doppelgänger: Sven Svensson, den Schreiber und Bauernsohn, der seinen König über alles liebt, der ihm bedingungslos dient. Der in des Königs Rock schlüpft und in seinem Namen agiert: der schönen Aurora zeigt er, was für ein Kerl dieser Karl ist, den Türken in Bender spielt er den klugen Herrscher vor. Er rettet den König aus mancher kritischen Situation – bis er nicht mehr kann. Bis er den Abgrund erlebt, der zwischen Ideal und Wirklichkeit klafft. Sven Svensson, die Volksgestalt, ist Heinz-Jürgen Zierkes literarisches Medium, Taten und Charakter eines absolutistischen Herrschers zu prüfen und zu werten und so ein nicht widerspruchsfreies, aber interessantes Bild einer im Untergang begriffenen Epoche zu entwerfen. Im folgenden Textauszug erfahren wir, wie und durch welchen literarischen Zufall sich der König Karl und der Mann aus dem Volk begegnen:

Narwa

Die erste Begegnung des Dalarner Bauernsohnes Sven Svensson mit dem König Karl brachte der Zufall zustande, im Winter des Jahres 1700, auf einem überfrorenen Landweg in Estland, vor der großen Schlacht von Narwa, die dem jungen König Ruhm und dem ebenso jungen Schreiber Hoffnungen bringen sollte.

Der Zufall spielt auch weiterhin eine nicht unbeträchtliche Rolle in unserer Geschichte, wie er das auch gemeinhin im Leben der meisten Menschen tut, wenn auch vielleicht keine so entscheidende wie hier.

Die Berichte, auf die wir uns stützen, haben auf ihrem jahrhundertelangen Weg unter manchem blühenden Kirschbaum Rast gehalten, in herbstlichen Wäldern vor Stürmen Schutz gesucht, manche weiße Blüte und manch oktoberbuntes Eichenblatt sind ihnen zugeflogen, Sommerregen hat sie ausgewaschen, Eis und Schnee haben an ihnen gekratzt, und so erscheinen sie heute an einigen Stellen übertrieben bunt, an anderen dafür grau und rissig, und wer will sagen, welche Form und Farbe ihnen ursprünglich sind.

Es mag auch sein, dass die frühen Erzähler dieser Geschichte wohl wussten, dass ihre Zuhörer wundersame Berichte hören wollten, denn die Alltäglichkeit, die sie umgab, brauchte man ihnen nicht auch noch vorzusingen. Und da das Zuhören einmal als Feierlichkeit galt, als eine Art Gottesdienst, der Erzähler und Hörer in den Rausch der Schöpfung versetzte, reihten sie also solche Geschehnisse, die sie für wert fanden, erbauliche oder erschreckende, stets aber erregende Gefühle zu wecken, aneinander, ohne zu fragen, ob sie auch durch Ursache und Wirkung miteinander verknüpft seien, konnten sie doch, wo einer ihrer Hörer die Weihe nicht empfangen hatte und sich zu kritischen Bemerkungen berechtigt wähnte, die in Anwürfen wie „unwahrscheinlich“ gipfelten, auf die Allmacht des Schöpfers oder auf Gottes unerforschlichen Ratschluss verweisen, den wir Heutige nüchtern in den simplen, im Grunde ebenfalls nicht zulässigen Zufall säkularisiert haben.

Ein solcher Zufall, der durch nichts zu begründen ist als durch eine Kette weiterer Zufälle, führte also an einem Novembernachmittag des Jahres 1700 einen wegen eines Achsenbruches von seiner Kolonne abgekommenen schwedischen Kanzleiwagen einen ausgefahrenen estländischen Landweg entlang. Die Männer in den blauen Mänteln mit den gelben Knöpfen trotteten hinter dem ächzenden Gefährt her, die Arme bis zu den Ellenbogen in die Taschen versenkt, die Gesichter mit Wolltüchern umwickelt, und sie froren trotzdem. Der Kanzleirat, der im Unterschied zu seinen Schreibern beritten war, fürchtete um seine Zehen und wünschte sich zurück in die große Stube seines Faluner Elternhauses, wo er schwere Eichenkloben in den Kamin schieben und honiggesüßte Milch schlürfen konnte, oder wenigstens in das Stockholmer Kontor seines Amtes. Aber König Karl hatte befohlen, dass die Armee übers Meer ginge, damit sie die Sachsen und Russen strafte. In den Regimentern herrschte strenge Ordnung; ein Tross von Kanzleibeamten und Schreibern trug jeden gewonnenen oder verlorenen Hufnagel fein säuberlich in Listen ein, kopierte diese und schickte sie an die Kanzlei der Armee, wo die Papiere erneut kopiert und an die Staatskanzlei nach Stockholm weitergeleitet wurden. Von dort erhielten die verschiedenen Beschaffungsämter neue Kopien, und dann liefen alle Aktenstücke dieselbe Strecke zurück. Um diesen langen Weg abzukürzen, hatte die Regierung angeordnet, dass einige Ämter, die der Zivilkanzlei unterstanden, die Armee auf dem Feldzug begleiten sollten.“ Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters:

Erstmals 1971 erschien im Kinderbuchverlag Berlin „Alwin auf der Landstraße“ von Bernd Wolff: Das Altmarkstädtchen Gösemark Mitte der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Der zwölfjährige Tierarztsohn Alwin Weingart fühlt sich eingesperrt, weil er, statt in den Sommerferien zu den Großeltern im Harz fahren zu dürfen, von dem gestrengen Vater den Auftrag erhielt, die schwachen Rechtschreibleistungen auf dem Zeugnis durch Übungen mit dem Duden zu verbessern. Die Mutter, sonst vermittelnd, weilt auswärts zur Kur. Auch die Freiheit des Freundes Ruschi kann Alwins trübe Stimmung nicht verbessern. Als sich, weil er wenig Erfolg vorweisen konnte, die Hausarreststrafe erhöht, beschließt Alwin, auf eigene Faust aufzubrechen. Mit dem Fahrrad begibt er sich auf die zweihundert Kilometer lange Strecke in den Harz. Doch da wird dringend der Tierarzt gebraucht. Alwin, um nicht erwischt zu werden, schickt den Anfragenden bewusst in die verkehrte Richtung. Schuldbewusst setzt er seine Flucht fort. Nun beginnt eine Tour, die dem Jungen viel Kraft und auch Entscheidungen abverlangt, die ihn hilfsbereite und auch bösartige Menschen kennen lernen lässt, immer mit dem unguten Gefühl, der Vater könne ihn zurückholen. Tatsächlich macht sich dieser, gemeinsam mit dem Deutschlehrer Alwins, an die Verfolgung. Doch Alwin, schon vor Magdeburg, trifft den Kraftfahrer Stade und dessen Tochter Gabi, die helfen ihm weiter. Als er anderntags seinem Ziel nahe ist, weiß er, mit zweihundert Straßenkilometern in den Beinen: Jeder braucht hin und wieder seinen Berg – er, und der Vater auch. Die Landstraße hat ihm gezeigt, wie er seine Stärken finden kann. Hier der Beginn des Buches:

Erster Tag

1

Straßen wie Adern. So durchziehen sie die Republik, selbst das abgelegenste Gehöft verbinden sie mit der übrigen Welt.

Straßen. Der Wind staubt darüber hin, der Regen spült sie blank, der Frost legt ihnen knirschende Fesseln an. Aber unaufhaltsam pulsiert das Leben durch diese Adern, stark und unaufhaltsam…

Straßen: Wege, die Menschen zueinanderführen.

2

Da steht ein Junge am Fenster. Er ist in die Höhe geschossen wie eine Salatstaude und daher etwas schmächtig um die Brust. Beine dürr und stakelig wie Tomatenpfähle. „Sprinterbeine“, redet er sich heraus, wenn das Gespräch darauf kommt. Langes, immer irgendwo zerkratztes Gesicht, Ohren, die wieder und wieder Anlass zu Keilereien mit spöttelnden Mitschülern geben, weil selbst die dunkelblonden Haarsträhnen nicht in der Lage sind, sie zu überwuchern, Haarsträhnen, die er sich ständig aus der Stirn und von den missmutig zusammengekniffenen Augen schlenkern muss. Ein schmales Jungsgesicht auf dünnem Hals, ein bitterböses, verdrossenes Gesicht, ein Gesicht, das die Milch sauer werden lässt, wie die Mutter sagen würde, wenn sie hier wäre – das ist Alwin.

Da steht er unbeweglich, vielleicht schon eine halbe Stunde, vielleicht länger, und beobachtet das Lichterspiel auf rauen Rüsterblättern, wenigstens hat es den Anschein so. Bestimmt gäbe es Dinge, die er lieber täte, baden und angeln und rumstromern und nach Renneckenberg fahren und und… gleich ein halbes Dutzend wären, ohne Luft zu holen, herzuzählen, aber er tut sie nicht. Er tut gar nichts und ist uneins mit sich und der Welt, am meisten aber mit dem Vater.

Draußen ist Sommer, einer von der Sorte, die es nur alle Schaltjahre mal gibt. Aber was kann Alwin schon von diesem Sommer erwarten?

Wenn es Strippen regnet oder Hühnereier hagelt, dann ist Hausarrest noch eine einigermaßen erträgliche Angelegenheit: Radio auf Volldampf, in den Sessel gehauen mit einem spannenden Krimi von Ruschi und dem Wetter die Zunge herausgestreckt. Ktsch, bätsch, Wettermann, dein Wetter geht mich gar nichts an!

Wenn…! Aber wenn die Feriensonne die Altmarkerde brät, wenn sich die Hühner, zu faul zum Eierlegen, im Wegstaub hudern, wenn das Gekreisch aus der Badeanstalt durch das geöffnete Fenster hereinlärmt und der Wind nach trockener Erde und Hitze und sehr nach Heu riecht, wenn alle Welt lockt: Komm raus, komm raus! Junge, dann ist so ein Hausarrest eine Marter dritten Grades. Direkt zum Verzweifeln.

Alwin spuckt seinen Zorn in die Rüster. Passiert denn gar nichts in diesem langweiligen Nest? Soll er hier tagelang untätig hocken, ausgeschlossen sein, und draußen dreht sich die Welt?

Schlimm, wenn man erst zwölf Jahre alt ist, schutzlos seinem Vater ausgeliefert, auf Gedeih und Verderb sozusagen. Sieben Tage Hausarrest! Eine ungerechte Welt, pfui Deibel!

Aber wer traut sich schon, dem Vater Vorhaltungen zu machen? Er hat ein Kreuz wie ein Ortscheit. Als die Eltern hier einzogen vor zehn Jahren, hat er sich extra hohe und breite Türen hineinbrechen lassen. „Ich will mir nicht dauernd blaue Flecken holen an diesen Karnickellöchern, da kriegt man ja Herzbeklemmungen“, hatte er räsoniert. Frau Pinartz hatte die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, „nein, wenn mein Seliger das erlebt hätte!“, aber das machte keinen großen Eindruck, der Zimmermann war die Eile in Person. Verständlich, den Vater umwittert der Hauch sagenhafter Stärke. Einmal, als in der Stadt ein Zirkus gastierte, hat er sogar einem Löwen den vereiterten Kiefer operiert, ohne mit der Wimper zu zucken. „Warum soll ich dem Tier nicht helfen, wenn es Schmerzen leidet? Darüber braucht ihr wahrhaftig nicht zu schreiben, das ist Mumpitz!“, hatte er den Zeitungsreportern erklärt. „Schlagt lieber ein bisschen Lärm, dass man uns endlich die neuen Aufzuchtställe genehmigt!“ Und Alwin durfte eine Woche lang für umsonst in die Kreisstadt fahren und den Auftritt des Löwen Haile Selassie bewundern.

So ist der Vater. Eigentlich könnte man schon stolz sein auf ihn. Wenn er nur nicht immer so hart wäre!

Des Vaters geheimer Kummer ist, dass Alwin, der „dürre Hecht“, so wenig nach ihm geraten will. Das bringt ihn oft in Zorn.

„Da setzt du dich hin und übst für die Rechtschreibung, verstanden? Eine Vier auf dem Zeugnis kommt mir nicht noch einmal ins Haus! Man muss sich ja in Grund und Boden schämen“, schnauzte er. „Was hat dem Rusch seiner, der Bengel?“

Wenn der Vater so mit ihm redet, duckt sich Alwin. Dann möchte er nicht lang und dünn und groß wie ein Dreizehnjähriger sein, sondern am liebsten wieder der kleine Alwin, den jeder behätschelt und bewundert hat in Renneckenberg und der auf den Schultern vom Opa geritten war: „Opa, ich bin groß, größer als die ganze Welt!“

„Was der Rusch hat, will ich wissen!“ Die Stimme war noch lauter, noch schärfer geworden.

„Hör ich ja, Mensch! Sylvi Hannich hat ihm immer die Hausaufgaben und alles zum Abschreiben gegeben, da sagt ja der Balduin nichts, Sylvi Hannich ist ja auch seine Beste…“

„Und was hat er nun, verdammt noch mal?“

„Drei, glaub ich. Wenn ich von Sylvi abschreibe, bin ich mindestens auf Zwei. Oder auch nicht, wo mich der Balduin sowieso nicht leiden kann, bei dem kommt man ja nie aus dem Schneider…“

„So?“ Der Vater, der Riese, sah ihn plötzlich bekümmert an. Die Nahtnarbe auf der gerunzelten Stirn senkte sich bis auf die Augenbrauen. „Das fehlte mir gerade noch in meiner Raupensammlung: Mein Sohn und Betrug. Ich muss schon sagen, du machst dich. Und der Rusch, der Alte, feixt wieder: Die Intellenz hat er doch wohl von seinem Vater, doch? – Aber ich, mein Lieber“ –  mit unerbittlicher Hand packte er Alwin am Kinn und zwang seinen Kopf hoch, „ich mache das nicht mehr mit, verstanden? Außerdem heißt dein Lehrer für dich immer noch Herr Böhm, mag er sein, wie er will!“

Er knallte ein Buch auf den Schreibtisch, einen Wälzer von Buch, zwanzig von Ruschis Krimiheften wogen es nicht auf.

„Hier ist der Duden, dort das Heft, da steht die Tinte. Du darfst meinen Schreibtisch benutzen, wenn du nichts durcheinanderbringst. Das wäre ja gelacht, wenn ich dich nicht hinkriegte!“

„Ja, aber…“

„Keine Widerrede! Wenn Mutti zurückkommt, kannst du einwandfrei schreiben, spätestens dann! Ich kontrolliere jeden Abend, und wehe dir –“ Das war ein Machtwort, und Alwin hatte verstanden.

Trotzig schlenkert er die Haare aus der Stirn. Schreien und Kommandieren, das ist das einzige, was die Erwachsenen können. Eine Ausnahme höchstens die Großeltern in Renneckenberg, hin und wieder auch mal die Mutti. Aber auch da geht es meistens: Sitz gerade! Lass dich nicht immer ablenken! Spiel nicht! Sieh auf dein Heft! Schreib doch bloß mal vernünftig! Du sollst nicht so dasitzen wie eine müde Leberwurst, habe ich gesagt! Kuck nicht so brummig, dir ist wohl alles zuviel?

Als ob er da noch lächeln sollte, wenn so mit ihm zackeriert wird! Und doch, Alwin würde etwas drum geben, wenn die Mutti jetzt hier wäre und nicht in diesem dämlichen, na, Vogelsang, Heilstätte Vogelsang; über hundert Kilometer von hier. Wenn sie ihn hernehmen würde und seinen Kopf zausen mit ihren festen warmen Händen, und nachher würde sie ihn auffordern: „So, Großer, nun wollen wir mal zusammen den Fehlern zu Leibe rücken, das wäre ja gelacht…“

Sie hätte auch den Vater umgestimmt, das weiß Alwin gewiss, sie hätte diese entsetzliche Strafe von ihm abgewendet. Aber nein, er soll kein Glück haben. Ausgerechnet seine Mutter musste man bei der letzten Röntgen-Reihenuntersuchung aussortieren und nachuntersuchen.“

Erstmals 1990 veröffentlichte Holda Schiller im Buchverlag Der Morgen Berlin „Das Leben scheidet, nicht der Tod“: Auf einem Neulehrerkurs lernen sie sich kennen, 1947 – Liebe, Heirat und dann die Anstellung in einer märkischen Kleinstadt. Sie, Ermina, Tochter eines Wasserschöpfers aus Bessarabien, sehr naturverbunden, als „Umsiedlerin“ mit bitterer Lebenserfahrung, ist eine begeisterte Lehrerin. Sie fühlt sich mit den Schulkindern und allen Menschen guten Willens im Ort eng verbunden, will sesshaft werden – und möchte selbst ein Kind haben. Ihr Mann nicht. Er, Arno, Arztsohn, philosophisch interessiert, ihn langweilen der Unterricht, Weiterbildung und die außerschulischen Aufgaben der Neulehrer. Ganz gegen den Wunsch seiner Frau setzt er es durch, nach Berlin zu wechseln. Als Verlagslektor, als Redner in Versammlungen, in Einsätzen gegen das Schieberunwesen findet er hier eine ihn mehr befriedigende neue Betätigung. Ermina, warum liebt sie Arno weiterhin? Nach Überwindung vieler Vorbehalte folgt sie ihm sogar nach Berlin, sieht sich aber sehr bald zwischen den Ruinen verkümmern und flieht zurück in die ihr vertraute Arbeits- und Erlebniswelt der Kleinstadt.

So wird beider Ehe mit der unterschiedlichen beruflichen Zielstellung einer fortdauernden Belastung unterzogen. Auf zwei Handlungsebenen holt der Roman weit aus: Zum einen der sich trotz tiefer gegenseitiger Zuneigung aufbauende und als unüberbrückbar ausweitende, für Ermina und Arno schmerzhafte Ehekonflikt und zum anderen das Zusammenleben der kleinstädtischen Alteingesessenen mit den „Flüchtlingen“ unter den Nachkriegsbedingungen der neuen Ordnung in der sowjetischen Besatzungszone; Schul- und Bodenreform, beginnende demokratische Selbstverwaltung, Währungsreform und nicht zuletzt die Querelen der Unverbesserlichen, Verhaftungen. Aber stärker als alles zunächst Unvorstellbare doch der Optimismus der Aufbauwilligen. In den Romantext floss ein gut Teil Autobiografisches der bessarabien-deutschen Autorin mit ein; sie beschönigt und verklärt nichts. Das zeittypische Leben damals gleicht einem Geschichtsbild, wie es vom Thema her bislang kaum so überzeugend gestaltet wurde. Und so beginnt dieses spannende Buch:

1. Kapitel

Sie trafen am Vormittag in der Kleinstadt ein, hier sollten sie als Neulehrer anfangen. Es war das Jahr neunzehnhundertsiebenundvierzig, ein Jahr, in dem überall so viele neu anfingen, nicht nur in der Schule.

„Pauker in einer Kleinstadt, das letzte, was ich werden wollte“, sagte Arno. Er trug einen abgestoßenen alten Koffer, der wegen seiner schadhaften Schlösser mit Riemen zugehalten wurde. Ermina hängte sich bei ihm ein, sie gingen durch die Bahnhofstraße auf den Markt zu. Die ein- und zweistöckigen Häuser und die Linden, deren Blätter schon vergilbten, wurden von warmem Licht überflutet. Weit offen standen die Ladentüren, davor schwatzende Frauen mit Einkaufstaschen, ein Bild, das auch einen fremden Ort vertraut erscheinen lässt. Die Frauen verstummten, betrachteten die Ankömmlinge interessiert, auch ein wenig misstrauisch.

Auf dem Marktplatz hatten sich vor dem Bürgermeisteramt Männer und Frauen mit Kindern angesammelt, sie warteten anscheinend auf etwas. Die jungen Frauen trugen weite Röcke und helle Blusen, die älteren Kittelschürzen. Von der Menge ging Spannung aus, obwohl keiner etwas anderes tat, als dazustehen und auf das Tor zu starren. Arno wollte weitergehen, Ermina hielt ihn zurück. „Ach bitte, nur einen Augenblick, ich will sehen, was hier los ist.“ Er gab nach, sie gesellten sich dazu.

Eine Frau krampfte die Finger um den Henkel einer Zweiliterkanne. Die Kanne war voll, doch ohne Deckel. Ermina sah in das Gesicht der Unbekannten und zuckte leicht zusammen. Die Frau hatte eine glatte Stirn, zarte Haut, sichelförmige Brauen, wäre schön gewesen, hätte sie nicht ein harter, verkniffener Mund entstellt. Jung war sie und doch gegen irgendjemand voller Hass.

Ermina wollte Arno auf die Frau aufmerksam machen, sah aber plötzlich ein Paar, das vom Standesamt kam. Zwei kleine weiß gekleidete Mädchen gingen mit kurzen, steifen Schritten voraus und streuten Blumen. Es entstand Bewegung, von hinten drängelte man nach vorn. Manche kicherten, andere riefen dem Paar Glückwünsche zu.

Eine Hochzeit, dachte Ermina enttäuscht. Sie fand das Brautpaar nicht schön genug. Es störten sie die Glatze des älteren Mannes – ein Bräutigam durfte so etwas nicht haben -und das gewöhnliche Lächeln der Frau, doch sie sagte sich: Hochzeit ist Hochzeit, für uns ein gutes Omen. Sie wollte mit Arno ihren Weg fortsetzen, als sie ein Murmeln, derbes Lachen, erregte Stimmen hörte und zurückblickte. Erschrocken starrte sie auf das Brautpaar. Die Frau wischte Hals und Ausschnitt mit dem Taschentuch ab, das Gesicht des Mannes war so bleich geworden wie seine Glatze. Am dunklen Anzug hingen Reste von Sauermilch, Molke tropfte zu Boden.

Ermina begriff nichts. Wer tut so etwas und warum? fragte sie sich und war unfähig weiterzugehen.

Das Brautpaar und die Trauzeugen verließen eilig den Schauplatz. Die Blumenmädchen hatten einen Schwaps dicker Milch abbekommen und weinten. Ihre Mütter eilten heran, sie zu trösten. Langsam gingen alle auseinander. „Das ist doch nicht etwa ein Hochzeitsbrauch bei euch?“

Arno lachte, beugte den Kopf zu Ermina hinunter. „Nein, du, das ist bei uns die Rache des kleinen Mannes. Da, guck!“

Beschwingten Schrittes bog die Frau, die sie vorhin beobachtet hatte, in eine Gasse ein und schwenkte die leere Kanne.

Arno hob den Koffer auf, sie gingen ein Stück. Doch Ermina blieb von Neuem stehen und hielt Ausschau nach einer Bank. „Ich muss erst ein bisschen sitzen. So kann ich nicht vor unserer Wirtin erscheinen.“

Zwei Frauen kamen vorbei und sprachen laut. „Den beiden gönn ich das. Jetzt hat er die vierte, in ein paar Wochen guckt er bestimmt der fünften hinterher.“

„Tja, bei der Männerknappheit, jetzt nach dem Krieg, wo jede froh ist, wenn sie mal einen hat …“

Vom Markt führte eine Kastanienallee zur Klosterkirche und Klosterruine. Arno und Ermina setzten sich auf einen Mauervorsprung. Er betrachtete sie von der Seite. „Du siehst so mitgenommen aus. Doch nicht etwa wegen des Unfugs vorhin?“

Ermina reagierte erst nicht, schien wie so oft alte Erfahrung mit der neuen Wirklichkeit zu vergleichen, einer ihr noch fremden Welt.

Sie stammte aus Bessarabien, das früher mal zu Rumänien und mal zu Russland gehört hatte. Von dort 1940 ins Reich heimgeholt, war sie durch Umsiedlung, Ansiedlung, Flucht über Jahre wer weiß wo herumgetrieben worden, ohne zu wissen, wo sie einmal zu Hause sein würde. Der Ort hier hatte ihr gleich gefallen, sie hatte an Sesshaftigkeit gedacht, schon am Bahnhof, als sie ankamen und eine Kreissäge vom Sägewerk aus der Ferne wie ein Begrüßungsruf zu ihnen herüberklang.

Durch das Gras unter den Bäumen lief eine Haubenlerche. Ermina, die Augen auf den Vogel geheftet, sagte: „Schon vergessen die Posse mit der dicken Milch. Es ist schön hier. Von mir aus können wir für immer bleiben.“

Er sagte weder ja noch nein, mahnte nur, sie müssten gehen, stand auf und nahm den Koffer.

Sie überquerten den Marktplatz und bogen ein in die Krummholzstraße. Frau Dohle, die Wirtin, empfing sie mit gekünstelter Freundlichkeit. Sie mochte Mitte Fünfzig sein, war alleinstehend und prinzipienreich. Zu vermieten, das habe sie überhaupt nicht nötig, gezwungenermaßen tue sie es, sagte sie, und führte die beiden über eine enge steile Treppe zum Dachboden in eine ausgebaute Wohnung. Während sie ihnen die Räume zeigte, zwei winzige Zimmer mit Schrägwänden und eine Küche, winzig auch die, zählte sie auf, was sie alles zu beachten hätten – Besuch nur bis zweiundzwanzig Uhr, beim Betreten des Hauses Schuhe wechseln, keinen Lärm verursachen, die Ziege Hanna nicht erschrecken, sonst setze sie über den Zaun -, und schloss sehr ernst: „Es gibt noch eine Bedingung.“

„Die wäre?“, fragte Arno.

„Es handelt sich um Pietät.“ Frau Dohle erklärte, sie dürften keine Möbel verrücken oder umstellen. Das sei sie ihrem Bruder schuldig, dem die Wohnung einst gehörte, der schon mit vierzig, leider Gottes, habe heimgehen müssen. Sie versprachen es.

Auf einmal redete Frau Dohle beinahe vertraulich, mehr an Arno als an Ermina gewandt: „Was meinen Sie, was bei uns hier los ist! Der ganze Abhub aus dem Osten. Jede Mansarde, jedes Kellerloch ist vollgestopft. Flüchtlinge. An was für Leute Sie da geraten können! Bei meiner Schwester sind welche einquartiert, die sprechen manchmal Türkisch.“

Der Abhub aus dem Osten hatte Ermina tief getroffen. Schützend legte Arno den Arm um sie. „Türkisch klingt gut, meine Frau spricht es auch.“

Mit einem flüchtigen Blick auf Ermina gab die Wirtin Arno die Schlüssel, sagte wie abschließend „So“ und ging. Allein geblieben, fielen Ermina und Arno einander in die Arme. Eine ganze Wohnung! Nicht nur ein Zimmer mit Küchenbenutzung.“

Erstmals 2009 veröffentlichte Hans-Ulrich Lüdemann im BS-Verlag Rostock „Zahltag. Detektei Rote Socke, Band 3“, zu dessen Beginn sich die Heldin des Buches selber vorstellt: Gestatten Sie: Mein Name ist Mildred Sox, Diplom-Kriminalistin. Wenn Sie den von mir gelösten Kriminalfall Gudow in JANUSGESICHTER oder EIN MÖRDERISCHER DREH gelesen haben, dann kennen Sie ja meine bisherige Lebensgeschichte. Ich bin also diejenige, die aufgrund besonderer Lebensumstände aus dem Polizeidienst gefeuert wurde und demzufolge geradezu eine Privatdetektei gründen musste. Die vorliegende Story vom Rentner Fyerabend ist kein Kriminalfall im eigentlichen Sinne. Zugegeben, ich konnte diesen Fall nicht aus eigener Kraft beenden. Aber es handelte sich auch um eine Ausnahmesituation, die ich keinem Kollegen wünsche. Der Täter war auf einen Rollstuhl angewiesen, schwer bewaffnet und führte einen abgerichteten Schäferhund mit sich. Auf engstem Raum trafen der ehemalige Küchenbulle (65), der aus Hamburg geliehene Dr. Kruse (45) und eine etwas naive Sekretärin des Amtsleiters aufeinander. Letztere spielte ich ganz intuitiv, weil ich mir dadurch bessere Chancen für die Überwältigung des Erpressers erhoffte. Trotz des Ernstes einer Geiselnahme mit SEK und anderen Begleiterscheinungen, blieben komische Momente nicht ausgespart – der Schluss hielt auch für mich eine überraschende Wendung bereit. Hier ein Textauszug vom Anfang des Buches, der ziemlich auf den Tag genau vor nunmehr 25 Jahren spielt:

15. MÄRZ 1996, 07:05

Niemand hätte voraussagen können, dass dieser Freitag anders als jeder beliebige Freitag im Jahre sechs der Deutschen Einheit sein würde. Letztlich war es auch kein Dreizehnter, dem gemeinhin Böses untergeschoben werden konnte. Aber weil Bruno abwesend war, begann für mich dieser Tag nicht wie die Tage zuvor. Nach einer Nacht ohne Bruno fehlte beispielsweise das spezielle Rührei mit kross gebratenen Zwiebeln, auf dessen Zubereitung er sich wie kein anderer verstand. Immer am Freitag verbrachten wir eine Nacht, als sei es die letzte unseres Lebens zwischen Mann und Frau. Gebildete Zeitgenossen pflegen regelmäßige Treffen am gleichen Wochentag einen Jour fixe zu nennen. Wegen unseres Altersunterschiedes bestand ich darauf, dass es in jenen Stunden keine Liebesbeteuerungen gab.

Obwohl ich an diesem 15. März in meiner Altbauwohnung allein unter der Brause stehen musste, aus der es eher nur warm tröpfelte, war ich guter Dinge. Ich schrubbte an mir herum, als gelte es, für eine Spät-Kommunion alle Sünden vom neunundvierzigjährigen Leibe zu waschen. Mag sein, dass meine Sommersprossen deutlicher als sonst zutage traten. Bruno war einer der wenigen Männer, die eine Chance gehabt hatten, alle rostroten Pünktchen zählen zu dürfen …

Die Minuten morgens im Bad sind mir heilig, und meine Gedanken waren auf das Wochenende mit Bruno in Berlin gerichtet. Ich hörte einen lauten Knall. Glas splitterte. Der laue Wasserstrahl dämpfte das folgende Klirren kaum. Der Krawall draußen bewog mich, meinen wirren roten Haarschopf unter einem Handtuch zu bändigen. Als ich aus dem Fenster meines BUREAU OF INVESTIGATION blickte – nach der letzten Boston-Reise hatte ich das Detektei-Büro umbenannt – erkannte ich den Schaden: Wo bis jetzt für jedermann sichtbar ein Lichtkasten mit der Aufschrift DETEKTEI MILDRED SOX geworben hatte, ragte nur noch Metall als trauriger und nichts sagender Fingerzeig aus der Fassade. Alles andere lag zerborsten irgendwo unten auf dem abgesperrten Fußweg.

„Habt ihr einen Sockenschuss?!“

„Meinen Sie uns?“

Ein Schwergewicht mit Schutzbrille setzte seinen Betonhammer ab, als wollte er der Reklame-Halterung noch eine winzige Überlebenschance einräumen.

„Sind Sie die Frau Sox?“

Der Pickelhering neben ihm lachte gurrend. Sein Adamsapfel hüpfte auf und nieder. Um die unverhoffte Pause voll auszukosten, nahm der Azubi seine kreisrunden Augengläser ab und putzte sie ausgiebig. Schließlich setzte er das Nasenfahrrad wieder auf, nahm ein belegtes Brot vom Gerüstbalken, biss gierig hinein und erklärte mampfend:

„Sockenschuss? Ausgerechnet Sie nehmen ein solches Wort in den Mund? Schon mal was gehört von den RED SOX BOSTON, Madam?“

Alle vier Vokabeln klangen korrekt in meinen nicht ungeübten Ohren. Unter anderen Umständen hätte ich diesem Klugscheißer was erzählt: Dass ich höchstpersönlich im Stadion der RED SOX BOSTON gesessen und mein Vater vergebliche Anstrengungen unternommen hatte, mir die Regeln für den Catcher, Baseman oder Batter zu erklären. Dass es beim Baseball auf drei Dinge ankäme – aufs Pitchen, aufs Pitchen und aufs Pitchen! Dass man in Boston stolz ist, eine Rote Socke genannt zu werden. Dass das Wohl und Wehe der RED SOX BOSTON zum großen Teil den Alltag der Leute bestimmt. Dass das äußere Bild der Stadt auch geprägt wird von einer Baseball-Cap mit rotem Schirm und einem rotweißen RED SOX auf blauem Grund. Nicht wegen seines Namens war James Fenimore Sox ein geschätztes Ehrenmitglied auf Lebenszeit in diesem erfolgreichen Baseball-Club. Als Hauptaktionär seiner weltweit agierenden ANIMALS EQUIPMENT LTD. Boston war der ehemalige GI für großzügiges Sponsoring bekannt. Nicht zu vergessen: Im Sommer stand eine Reise nach Boston auf meinem Urlaubsplan …“

Erstmals 1980 erschien im damaligen VEB F.A. Brockhaus Verlag Leipzig „Reisen ins gelobte Land“ von Walter Kaufmann – in 3., neu bearbeiteter und erweiterter Auflage und mit Zeichnungen von Angela Brunner: Der Autor reiste bis 1980 viermal nach und durch Israel. Jede seiner israelischen Reisen wurde von einem anderen Walter Kaufmann angetreten: dem Vorstoß ins Unbekannte musste die genauere Prüfung seiner ursprünglichen Erfahrungen und Haltungen folgen, und erst während seines dritten Aufenthalts war er in der Lage, zielstrebig vorzugehen, wusste er, wo er fündig werden würde.

Bewegte ihn schon von Anbeginn die Frage, was aus ihm geworden wäre, hätte es ihn in seiner Jugend aus Hitlerdeutschland nach Israel verschlagen, nach den Geschehnissen des Kriegssommers 83 brannte sie förmlich in ihm. Sabra und Chatila! Hätte auch er sich auf der Straße vor Saida die Schulterstücke vom Hemd gerissen, wäre auch er vor der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem in den Hungerstreik getreten oder mit einem Warnschild gegen Begin in Demonstrationen aufgetaucht, er hoffte es! Sicher aber ist, sein Weg zu Schmuel Rubinstein, Shlomo Szmelcman, Jaacov Guterman war folgerichtig. Denn seine vierte Reise in den Nahen Osten stand im Zeichen der Verbundenheit mit jenen vierhunderttausend Israelis, die sich mit ihrem „Bis hierher und nicht weiter!“ einer kriegerischen und zugleich verhängnisvollen Entwicklung entgegengestellt hatten. Hier ein Ausschnitt aus diesem höchst politischen Reise-Buch:

„Wo bin ich? Riviera oder Chelsea, Tel Aviv oder New York – wo ich vor Jahren unterwegs zu Angela Davis war. Die Atmosphäre ist ähnlich. Ein billiges Hotel, ein winziges Empfangsbüro hinter der Theke mit der Rechenmaschine und dem lauten Kofferradio, und am Glas der ständig pendelnden Flügeltüren klebt ein Schild: THE CHEAPEST ROOMS IN TOWN! Yakov, der gewiefte Empfangschef, wendet seinen Kaugummi auf der Zunge, tippt sich an die Stirn beim Anblick des Alten von Zimmer 123, der (zum wievielten Mal?) nach seinem Sohn fragt. „Search me, Mr. Gerson“, antwortet er in unverfälschtem Amerikanisch. „I don’t know.“ Das Frühstück rechnet Yakov in Dollars ab, für die entsprechenden Dollars würde er auch nach Orangen oder Pampelmusen über die Straße laufen. Ist dies die Haryakon-Straße in Tel Aviv oder irgendeine Straße des östlichen Manhattan, wo die Luft so wie hier von den Abgasen oder Autos verpestet ist? Der geschäftige kleine Gemüsehändler im Laden gegenüber, mit dem verrutschten schwarzen Käppi auf dem kahlen Kopf, erinnert mich an Sam Finkelstein aus der 23. Straße, den ebenso kahlköpfigen New Yorker Juden mit der Nickelbrille und der Lederschürze, der bis spät in die Nacht hinein Obst und Gemüse verkauft.

Es ist jetzt zehn Uhr vormittags – die Sonne strahlt, es wird wärmer, und die vier platinblonden Frauen an dem runden Tischchen vor der Beach Bar, Zigaretten in den Mundwinkeln und vor sich in kleinen Tassen den schwarzen Kaffee, könnten auch in der Honey Bar am Times Square ihrer Kundschaft harren. Lichtreklamen: Singer-Nähmaschinen und Sony TV, die Mietwagen von Avis und ein Drugstore namens Skylab, Shangri-La Massage Parlours und Bourbon Whisky aus Kentucky. Das Spruchband quer über die Scheibe des Reisebüros Tour-Tel verspricht: PLEASE REST, WE’LL DO THE REST! Fern über den Parkanlagen am nördlichen Strand ragen die Dächer des Hilton und des Sheraton, und fast an jeder Ecke im Umkreis von mehreren Kilometern findet sich ein Bankinstitut, Barclay’s Discount, First International, Hapoalim, Israel Discount, Leumi, United Mizrahi – Change, Change, Change. Tel Aviv oder Manhattan – wer, wenn nicht die Fremden, der Tourist aus Stockholm oder aus Düsseldorf, wird in der Lage sein, all die Waren zu kaufen, die Souvenirs, Antiques, Juwelen, Ledermäntel, Lederjacken, die Jeans aus Frisco, Chicago und New York? Supermärkte, Kaufhäuser, lange Reihen von Taxis in der Yehudastraße, „Taxi, Sir – Taxi!“ Gab es nicht auch in Manhattan Mercedeswagen in Fülle und Volkswagenbusse und Siemens-Waschmaschinen, AEG-Kühlschränke, Rasierer von der Firma Braun? Das große Kino am Novemberplatz präsentiert „All the President’s Men“ – Schatten von Watergate über Tel Aviv, und das Kino gegenüber lockt in roten Leuchtbuchstaben mit „Carnal Love“. Wo bin ich – setzt sich diese Stadt nur aus Teilen von New York zusammen?

Ich entsinne mich an kein einziges Wort, das ich als Junge mit meinem Vetter Arnim gewechselt hätte, während der Schulpausen etwa auf dem Hof des Gymnasiums. Der Altersunterschied zwischen uns war zu groß. So wird er nie geahnt haben, wie sehr ich ihn bewunderte: ihn, den in allen Fächern leistungsstarken Primaner, der auch im Sport überragte, besonders im Reiten. Sicher hat er mich an jenem Sommersonntag nicht bemerkt, als er hoch zu Ross den Waldweg entlangpreschte, der an der Stelle, wo ich stand, von einem Holzstapel versperrt war. Ich aber sehe noch heute deutlich, wie er dem Pferd die Sporen gibt, wie das Tier sich aufbäumt und vor dem Hindernis scheut, doch Arnim ist sattelfest und zwingt das Pferd, den Sprung zu tun, und dann galoppiert er zwischen den Bäumen davon – und hinaus aus meinem Leben.

Vierzig Jahre lang bin ich ihm nicht mehr begegnet. Mich verschlug es nach Australien, wo mich nur einmal über Umwege ein Lebenszeichen von ihm erreichte. Er war nach Palästina ausgewandert und dort Landarbeiter auf einem Kibbuz geworden. Arnim, der Sohn des Bankdirektors, ein einfacher Landarbeiter! Danach sah ich ihn im Geiste die Wüste urbar machen, den braun gebrannten, von der Arbeit gestählten Pionier, hoch auf dem Sitz seines Traktors, zu Pferde auch, Wind und Wetter trotzend …

Fünfzig Minuten dieses Sonntagabends reichen – auch fünf hätten gereicht –, die Kluft, die uns trennt, deutlich zu machen. Schon die Begrüßung war ernüchternd. Ich hatte Arnim gestört. Täglich nach dem Abendgebet liest er religiöse Schriften, wie er sagt. Und so steht er nun unter der Tür seines kleinen Hauses und betrachtet den Besucher mit Unmut. Wäre ich ihm zufällig begegnet, ich hätte in dem ergrauten Mann mit den schwammigen Backen und dem schlaffen Mund nie das Idol meiner Jugend erkannt, und da er weder das Käppi vom Kopf noch den Gebetschal von den Schultern genommen hat, verstärkt sich die Entfremdung.

„Ich suche meinen Schutz in der Lehre Gottes“, erklärt er mir später mit müdem Blick. „Die Gefahr, die uns umgibt, hat mich in seine Nähe gedrängt. Die Religion ist mir zum lebendigen Erlebnis geworden.“

Unser Gespräch kommt nur stockend voran. Arnims Worten ist allmählich zu entnehmen, dass er es damals nicht auf dem Kibbuz ausgehalten hat. Das romantisch verklärte Bild, das ich mir von seinem Leben als Landarbeiter machte, löst sich zu kleinbürgerlicher Banalität auf: Von dem Geld, das sein Vater ihm aus Deutschland übermitteln konnte, kaufte Arnim eine Hühnerfarm.

„Indische Juden, die ich als Pächter einsetzte, haben sie nach und nach ausgebaut, und der Ertrag war einigermaßen.“ Er seufzt. „Seit den Kriegen der letzten Jahre aber machen mir die Steuern zu schaffen. Alles ist viel schwerer jetzt. Ich gehöre wohl doch nur zu den kleinen Leuten, mit mir können sie es machen.“

Besonders schwer, berichtet er, sei es für ihn wegen der Kinderlähmung seiner Tochter geworden, vor deren Hilflosigkeit seine Frau zu kapitulieren begonnen habe. „Alle Last und Verantwortung liegt auf mir.“ Selbst mein Besuch, wie ich sähe, habe sie nicht daran gehindert, sich früh zurückzuziehen. Sie sei weltfremd geworden und nehme wohl nichts mehr so recht wahr. „Sie bemerkt auch nicht, was es mich an Kraft und Überwindung gekostet hat, in meinem Alter noch einmal ins Berufsleben zurückzukehren. Ich habe bei einer Maklerfirma als Buchhalter angefangen. Mit den Einnahmen aus der Hühnerfarm waren ja zuletzt gerade noch die Arztrechnungen und der Unterhalt für die Tochter zu decken, unser eigener längst nicht mehr.“

Er verfällt in Schweigen, ein resigniertes Schweigen, wie mir scheint, und da er die ganze Zeit mit keinem Wort nach meinem Leben in all den Jahren gefragt hat, spreche ich von baldigem Aufbruch und erkundige mich nach der Abfahrtszeit des Busses nach Tel Aviv.

„Du willst schon gehen?“, sagt er. „Nun, dann auf Wiedersehen!“

„Auf Wiedersehen, Arnim.“

Kaum je zuvor habe ich diese Worte als sinnloser empfunden, und noch ehe er die Haustür hinter mir geschlossen hat, ist mir klar, dass es zu keiner weiteren Begegnung zwischen uns kommen wird.“

Soweit dieser aufschlussreiche Eindruck aus dem Israel-Reisebuch von Walter Kaufmann, das zugleich wie fast immer bei diesem Schriftsteller eine Recherche des eigenen Lebens ist: Wie ist es damals gewesen? Und wie hätte es sein können? Unter welchen Umständen ist es so gekommen, wie es gekommen ist? Und damit sind wir wieder bei den am Anfang dieses Newsletters beschriebenen wichtigsten Aufgaben und Angelegenheiten von Literatur angekommen: Menschliche Schicksale und Konflikte zu beschreiben. Und genau das ist auf allerdings sehr unterschiedliche Weise und in unterschiedlicher Handschrift der jeweiligen Autoren in allen fünf Sonderangeboten dieses zweiten Märt-Newsletters geschehen. Eine Einladung, sich auf eben jene menschlichen Schicksale und Konflikte der jeweiligen Helden einzulassen, mit ihnen zu hoffen, zu träumen, zu kämpfen sowie zu gewinnen oder auch bittere Niederlagen zu ertragen – kurz zu leben, wie Menschen zu allen Zeiten gelebt und geliebt haben, wie sie auch heute immer noch leben und lieben. Und so sehr sich auch die äußeren Umstände, die Kleidung und die Namen und manches andere mehr geändert haben mögen, geblieben sind und bleiben werden die fröhlichen und traurigen, spannenden und ermutigenden Geschichten von Menschen und ihren Schicksalen und Konflikten …

Viel Vergnügen beim Lesen und Mit-erleben, einen schönen Rest vom diesjährigen Winter und einen erfolgreichen Start in den kommenden Frühling, bleiben auch Sie in diesen schwierigen, teils bedrückenden und bald wieder auch etwas hoffnungsvolleren und helleren Zeiten weiter vor allem schön gesund und munter und bis demnächst.

Über die EDITION digital Pekrul & Sohn GbR

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