Befreiungsschlag oder Desaster? „Nichts von beidem“, sagt Thomas Sternberg, Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), in einer ersten Stellungnahme zum heute veröffentlichten Missbrauchs-Gutachten im Erzbistum Köln. Es legt 314 Verdachtsfälle vor und spricht von 202 Beschuldigten – zu mehr als zwei Dritteln sind dies Priester. In 24 Aktenvorgängen konnten Pflichtverletzungen zweifelsfrei festgestellt werden. „Alle Bistümer können aus den offensichtlichen Verfahrensfehlern, mangelnden rechtlichen Regelungen und der mangelnden Rechtskenntnis in Köln lernen“, fordert Sternberg. „Ich sehe einen klaren Auftrag für Reformen.“

Konsequent seien die ersten personellen Entscheidungen, die Kardinal Rainer Maria Woelki heute nach der Vorstellung des Gutachtens durch die Strafrechtler Björn Gercke und Kerstin Stirner getroffen hat. Der Kölner Kardinal hatte Weihbischof Dominikus Schwaderlapp und Offizial Günter Assenmacher werden wegen offenbar nachgewiesener Pflichtverletzungen mit sofortiger Wirkung von ihren Aufgaben entbunden.

Der Kardinal will sich nun mit dem Gutachten auseinandersetzen und am 23. März vor die Presse treten, um weitere Schlussfolgerungen vorzustellen. „Ich erwarte, dass die Öffentlichkeit dann auch erfährt, wie mit den Mängeln und Unklarheiten in der Bearbeitung von oft lange zurückliegenden, aber erst nach 2010 bekannt gemachten Fällen künftig umgegangen wird“, sagt Sternberg. „Angesichts der dilettantischen Arbeitsweise erwarte ich, dass überfällige Verwaltungsreformen sofort eingeleitet werden. Reformen, die den Mindeststandard einer Behörde erfüllen. Hier braucht es einen konkreten Zeitplan und konkrete Zuständigkeiten.“

Gercke und Stirner hatten „massive Kritik an der Aktenführung“ im Erzbistum Köln geübt. Die Untersuchung habe unter der Voraussetzung geführt werden müssen, in zahlreichen Verdachtsfällen keine Aufklärung bekommen zu können, weil das Material nicht vollständig gewesen sei. Verantwortliche hätten zudem teils über Jahre in „Rechtsunkenntnis“ auf Fälle reagiert, hätten vorgeschriebene Verfahrenswege nicht eingehalten und auf der Grundlage eines „unklaren Normengefüges“ unzureichende Entscheidungen getroffen. „Das Gutachten ist wichtig, bietet aber eine ausschließlich juristische Bewertung. Die vollständige Aufarbeitung kirchlichen Versagens kann nur gelingen, wenn interdisziplinär und unabhängig gearbeitet wird“, so Sternberg.

Auffallend ist, dass in den Fällen, wo Laien als mögliche Täter in den Fokus rückten, offenbar schnell und konsequent gehandelt wurde, während das bei Klerikern weit weniger der Fall war. „Wie konnte es passieren, dass in der Vergangenheit konsequent gegen Laien vorgegangen wurde, die als Täter in Erscheinung traten, während im Fall von Geistlichen offenbar grundsätzlich Milde zur Geltung kam?“ Die Frage nach dem Klerikalismus werde auch die Reformdebatten auf dem Synodalen Weg weiter beschäftigen, sagt der ZdK-Präsident.

Entscheidend sei jetzt, wie in Köln weiter auf dieses Gutachten reagiert werde. Es gehe „um Transparenz, Einbeziehung des Betroffenenbeirats und den Willen zur transparenten Kommunikation. Bislang ist da viel schiefgelaufen.“ Damit bezieht sich Sternberg auf das zerrüttete Vertrauen zwischen dem Kölner Kardinal und seinem Diözesanrat, der im Januar vorläufig die Zusammenarbeit mit dem Kardinal zum „Pastoralen Zukunftsweg“ eingestellt hatte. Der Hauptausschuss des ZdK hatte sich am 29. Januar mit dem Diözesanrat solidarisch erklärt, „nicht zuletzt wegen der Ausstrahlung der Kölner Vorgänge auf die gesamte katholische Kirche in Deutschland“. Ebenso hatten Pfarrgemeinderäte, einzelne Priester und vor allem Betroffene von sexualisierter Gewalt in der Kirche ihrem Unmut über die Kommunikation der Leitung des Erzbistums Luft gemacht. Der Vorwurf lautete: Intransparente Kommunikation.

Der Fall Köln zeige nicht nur massive Pflichtverletzungen und Dilettantismus von Verantwortungsträgern, sondern stehe auch „exemplarisch dafür, wie wichtig es wäre, endlich eine Verwaltungsgerichtsbarkeit der Kirche einzurichten“, so Sternberg. Zurzeit bleibe Betroffenen nur die Beschwerde bei einem Dienstvorgesetzten oder eine Klage bei vatikanischen Instanzen. Die schon von der Würzburger Synode 1975 beschlossene Einrichtung einer Kirchlichen Verwaltungsgerichtsordnung sei nach einem Neuanfang 2019 offenbar endlich in der Umsetzungsphase. „Es ist höchste Zeit für kirchliche Verwaltungsgerichte, die geordnete Verfahren mit Anklage und Verteidigung ermöglichen“, so Sternberg.

Es komme nun darauf an, „dass die Leitungsebene des Erzbistums Köln in eine wirklich offene Kommunikation“ eintrete. Es reiche nicht aus, die zahlreichen Fälle juristisch zu klären. „Sie müssen, wo noch nicht geschehen, zu einer Veränderung des Verhaltens führen.“ Auch am Beispiel des Erzbistums Köln mache sich fest, ob die katholische Kirche in Deutschland als Vorreiterin in der Aufarbeitung des Missbrauchsskandals wahrgenommen werden könne – oder nicht. Dass der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, der Kirche bislang ein gutes Zeugnis ausstelle, sei erfreulich, aber kein Freibrief: „Wer jetzt nicht ehrlich und glaubwürdig mit den Betroffenen spricht, wer nicht Prävention, Anerkennung und Aufarbeitung intensiv betreibt, kann die große Vertrauenskrise, die über die Kirche hinausweist, nicht überwinden.“

 

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