Auch das EU-Parlament ist nun ein Corona-Opfer. Vom 1. November an macht das EU-Parlament die Schotten dicht. Bereits in der vergangenen Woche wurden alle Parlamentsbeamte mit sofortiger Wirkung zu 100 Prozent Telearbeit verpflichtet. Dafür bekamen sie Laptops mit nach Hause, die etwa so groß sind wie zwei 250 Gramm Kaffeepäckchen nebeneinandergelegt, also weitgehend nutzlos für die seitenlangen Abstimmungslisten, die es für Ausschüsse und Plenarsitzung vorzubereiten gilt. Debatten sind abgesagt. Ausschüsse und Plenum finden nur noch als Videokonferenzen statt, wenn die Systeme nicht gerade wieder kollabieren. Um die Ausübung des Mandats im Parlament garantiert zu verhindern, wurden den gewählten Abgeordneten sogar die Tagegelder und die Reisekostenerstattungen gestrichen. Damit sollen sie von ihrem Parlament ferngehalten werden. Der Ausnahmezustand gilt erstmal für den ganzen Monat November, allerdings ist nicht ausgeschlossen, dass die drei Dezemberwochen bis zu den Weihnachtsferien noch hinzukommen. Schließlich ist in einer Verwaltung nichts so dauerhaft wie ein Provisorium. Abgeordnete schließen also ihr Parlament und verlegen die Debatten aus dem Plenarsaal in Videokonferenzen. Die elektronischen Abstimmungen funktionieren aber nicht. Während des vergangenen Plenums mussten manche Abstimmungen einfach abgebrochen werden.

Das EU-Parlament schafft sich also vorübergehend ab. Bereits vor Covid lag das diffuse Gefühl von Nutzlosigkeit in der Luft. Die Epidemie zeigt nun, dass das mit viel Steuergeldern aus den Mitgliedstaaten künstlich befeuerte Leitmotiv der „parlamentarischen europäischen Demokratie“ den Herausforderungen des täglichen Lebens nicht standhält. Nicht nur Strasbourg verliert seinen praktischen Nutzen als überwiegend leerstehender Sitz der Institution, sondern auch der Arbeitsort Brüssel, der nun de facto geschlossen und dessen Aktivitäten ins Internet verlegt werden, wirft Sinnfragen auf. Denn in der Krise zeigt sich, dass die Vielvölkerversammlung arbeitsunfähig ist. Ob es nun gleich drastisch reduziert oder ganz abgeschafft werden könnte, wie beispielsweise der Wirtschafts- und Sozialausschuss oder der Ausschuss der Regionen, ist eine andere Frage. Apropos, von diesen beiden Nebenorganen hörte man schon vor Covid nichts. Deswegen fällt die Stille der Covid-Pause auch nicht weiter auf. Aber sie kosten den Steuerzahler viel Geld und bringen nichts. Ihre Abschaffung könnte ein konkretes Thema der Konferenz der Zukunft der Europäischen Union sein, die auf ihren Startschuss wartet und wegen der Pandemie immer weiter verschoben wird.

Aber auch in der Kommission gilt der institutionell verordnete Stillstand. Nur noch 10 Prozent der Mitarbeiter dürfen in den Büros anwesend sein. Ein paar Kommissare wurden positiv getestet. Auch ein Mitarbeiter der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wurde positiv getestet. Daraufhin verließ Frau von der Leyen das Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs am 15. Oktober und verschwand vom Radar. Daraus entspann sich eine Posse im Pressessaal der EU-Kommission beim Dienstagsbriefing. Das Problem ist nämlich, dass Frau von der Leyen am Dienstort Brüssel nicht eine Wohnung in der Stadt bewohnt, wie das alle anderen Kommissare auch tun müssen, und wo sie sich in Selbstisolation hätte begeben können. Frau von der Leyen bewohnt in der 13. Etage des Zentralgebäudes der EU-Kommission einen Bürotrakt, der ihr als Einzimmer-Dienstwohnung für etwa 71.000 Euro (Steuergelder) umgebaut wurde. Es ist ein Wohn-Schlaf-Zimmer mit angefügtem Bad, an sich nichts Besonderes. Doch Selbstisolierung aufgrund eines Covid-Verdachts inmitten der Bürosuiten der EU-Kommissare ist offensichtlich ein Unding. Deswegen ließ sich Frau von der Leyen kurzerhand von ihrem Fahrdienst nach Hannover zurückfahren. Da allen Korrespondenten aber nach der präsidentiellen Twittermeldung der Gesundheitszustand der Kommissionspräsidentin bewusst war, stellten sie bei der Pressekonferenz am Dienstag die entsprechenden Fragen, und wurden ungewöhnlich harsch abgewiegelt. Auf einmal wurde der Aufenthaltsort der Kommissionspräsidentin zum Staatenbund-Geheimnis. Und die Pampigkeit des Pressesprechers galt umgehend als ein unfreiwilliges Indiz für die ziemlich angespannte Stimmung unter dem Führungspersonal im Berlaymont-Gebäude.

Die etwas trotzige Antwort des Pressesprechers „Ich kann ihnen nicht sagen, wann die Kommissionspräsidentin wieder nach Brüssel zurückkehren wird“ provozierte nur neue Fragen. In der Tat herrscht Unsicherheit um die eigene Gesundheit vor allem angesichts der Tatsache, dass die Anticovid-Sicherheitsprotokolle vor allem für normale Menschen gelten, aber EU-Kommissare und Spitzenbeamte quasi jede Dienstreise als „essentiell“ einstufen können und sich bei der Rückkehr aufgrund eines vollen Terminkalenders nicht notwendigerweise in die vorgeschriebene vorbeugende Selbstisolierung begeben müssen.

Die nächste Plenarsitzung des EU-Parlaments nun wird am 11. und 12. November in Form einer „Mini-Sitzung“ als reine Videokonferenz stattfinden. Bis dahin hat das Parlament noch Zeit, sich neu zu erfinden. Es wird ja nicht dadurch demokratischer, dass den Abgeordneten die Arbeit erschwert und die öffentlichen Debatten nur noch über ausgewählte „interactio“-chatprogramme ausgetragen werden.

Zur Erinnerung: Mehrfach wurden wir gebeten, die Identität des Briefeschreibers aus Brüssel preiszugeben. Es handelt sich um eine Gemeinschaftsarbeit von Informanten und Redaktion. Sie erinnert an die sogenannten Junius letters, in denen ein Pseudonym namens Junius in der Zeitschrift Public Advertiser in London vom 21. Januar 1769 bis zum 12. Mai 1772 Briefe über die Geschehnisse am Hofe und im Parlament veröffentlichte. Darin wurden die Machenschaften in der Königsfamilie, von Ministern, Richtern und Abgeordneten satirisch und mit Sachkenntnis der internen Vorgänge und Intrigen aufgespießt. Die Junius-letters gelten als erster Beleg des journalistischen Zeugnisverweigerungsrechts.

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