Unsere Welt befindet sich in einem gravierenden Transformationsprozess. Die Coronakrise hat die Themen Gesundheit, globale und soziale Gerechtigkeit sowie Demokratie auf der Agenda nach ganz oben geschoben. Gleichzeitig zeigen sich die Auswirkungen des Klimawandels von Jahr zu Jahr stärker. Die Weiterentwicklung der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie muss hierfür entschieden zukunftsweisende, radikal wissenschaftliche Handlungsleitlinien aufzeigen.

Die "Dekade des Handelns (und Ablieferns)" ist die letzte Chance für den Erhalt eines lebenswerten Planeten. Die Emissionen schnellstmöglich zu senken, ist die einzige Möglichkeit, die Folgen des Klimawandels abzumildern. Ohne die Erreichung der Klimaschutzziele und damit den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen, ist die Erreichung sämtlicher Sustainable Development Goals (SDGs) gefährdet. Konflikte um knapper werdende Ressourcen, Ernteausfälle, Wasserknappheit, Extremwetterereignisse werden in den kommenden Jahrzehnten weiter zunehmen und gefährdern alles, was bislang mit den Nachhaltigkeitszielen erreicht wurde. Gerade im Verkehrssektor muss endlich die gravierende Abweichung zwischen Klimaziel und realen Emissionen überwunden werden. Dementsprechend radikal müssen auch die Maßnahmen für den Verkehrssektor gestaltet werden.

Doch der Entwurf der Nachhaltigkeitsstrategie bleibt weit hinter diesen Anforderungen zurück. Der Beschreibung des Transformationsbereichs "Verkehrswende" wird gerade mal eine halbe von 313 Seiten eingeräumt. Die Eigenständigkeit und Wichtigkeit des Verkehrssektors bleibt unerwähnt. Die genannten Lösungsansätze sind gemessen an den Möglichkeiten und Erfordernissen kläglich. Der Fokus auf technologische Hoffnungen und digitale Errungenschaften ignoriert die seit Langem bekannten, schnell umzusetzenden Lösungen für die Verkehrswende: Veränderung des Modal Split durch Ausbau des ÖPNV, Erhöhung des Anteils von Fuß- und Radverkehr durch sichere Infrastruktur sowie Verkehrsvermeidung durch gute Stadt- und Regionalplanung.

Um eine Transformation im erforderlichen Ausmaß durchzuführen, ist eine gesamtgesellschaftliche Beteiligung zwingend erforderlich. Als zentrales Gremium für die Erarbeitung von Lösungen wird die Nationale Plattform Zukunft der Mobilität (NPM) herangezogen. Dabei gab es bis heute keine Möglichkeit für Bürger*innen oder zivilgesellschaftliche Akteure ohne jahrzehntelange Institutionalisierung, sich an dieser Plattform inhaltlich zu beteiligen.

Der Verkehrssektor vereint viele globale Probleme in sich: Besorgniserregender Anstieg der Emissionen weltweit, hunderttausende Tote jährlich durch Verkehrsunfälle und Luftverschmutzung sowie unzählige durch Emissionen gesundheitlich betroffene Menschen. Auch ist das System Auto sozial ungerecht. Menschen mit geringen Einkommen leben häufiger an vielbefahrenen Straßen und leiden unter Lärm und Schadstoffemissionen. Gleichzeitig haben sie seltener Zugang zu einem eigenen Auto und tragen insgesamt weniger zu den Emissionen bei. Den Verkehrssektor in der Nachhaltigkeitsstrategie konsequent und radikal zu adressieren bedeutet daher, viele der Nachhaltigkeitsziele gleichzeitig zu bearbeiten. Die Stärkung des Umweltverbunds hat vielfältige positive Konsequenzen für die einzelnen SDGs. In der aktuellen Dialogfassung der Nachhaltigkeitsstrategie vermissen wir diese Problemfelder, in denen in den nächsten Jahren deutlich zielgerichtetes und konsequentes Handeln erforderlich ist. Es fehlen geeignete Maßnahmen für eine echte Mobilitätswende.

MIt Blick auf den aktuell vorliegenden Entwurf der Nachhaltigkeitsstrategie fordern wir daher: 

1. Vorrang für den Umweltverbund 

  • Die Prioritäten müssen auf die schnelle Stärkung des Umweltverbunds gelegt werden. Fläche, Finanzmittel, Verwaltungsressourcen und Planungskapazitäten müssen zukünftig vorrangig Fuß-, Fahrrad- und öffentlichem Verkehr zugewiesen werden. Der motorisierte Individualverkehr darf nicht länger die Ressourcen binden, die wir dringend für die Mobilitätswende brauchen. 
  • In allen relevanten Regelwerken wie StVG und StVO müssen der Vorrang des Umweltverbundes gegenüber der Auto­-Mobilität festgehalten und die übergeordnete Funktion des Klimaschutzes und der Ressourcenschonung betont werden. Regelwerke für die Planung müssen dahingehend angepasst werden, prioritär für den Umweltverbund geeignete und sichere Infrastruktur zu bauen. 
  • Die Handlungsfähigkeit der Kommunen im Verkehrswesen muss mittels bundesweit einheitlicher, zukunftsgerichteter Standards für den Umweltverbund gestärkt werden. 

2. Lückenlose Infrastruktur für die Mobilitätswende 

  • Es braucht ein Netz sicherer Rad- und Gehwege, die Umgestaltung des öffentlichen Raums, den Ausbau und eine erhöhte Taktung des öffentlichen Verkehrs – und zwar im ganzen Land. Der Ausbau des Umweltverbunds muss mit der Stadtplanung integriert gedacht werden. Mit Instrumenten der integrierten Stadt- und Verkehrsplanung werden lebenswerte Städte mit belebten Innenstädten in wirtschaftlich starken, lokal versorgten Regionen geschaffen. 
  • Der Bundesverkehrswegeplan (BVWP) in seiner jetzigen Ausgestaltung setzt weiterhin auf den motorisierten Individual- und Güterverkehr auf der Straße – mit all seinen negativen Konsequenzen. Ein Umsteuern ist dringend notwendig. Es braucht einen Fokus auf Investitionen in Rad- und Fußweginfrastruktur sowie in den Ausbau von ÖPNV und des Schienenverkehrs. Dafür müssen Mittel aus dem Straßenverkehr umgeschichtet werden. Mit dem aktuellen Prinzip „Erhalt vor Aus- und Neubau“ wird zudem suggeriert, dass die aktuelle Verkehrsinfrastruktur passend sei. Dabei braucht es stattdessen eine Neuausrichtung auf Ausbau von Infrastruktur für den Umweltverbund und Rückbau der Infrastruktur für Kfz-Verkehr. Statt den BVWP 2030 weiterzuverfolgen, soll ein Transformationsplan erstellt werden, welcher die vorhandenen Ressourcen auf Erhalt und Ausbau von Infrastruktur für ÖPNV, Schienenverkehr, Radverkehr und Fußverkehr setzt. Neubau von Autobahnen und als „im Bau befindlich“ deklarierte aber noch nicht planfestgestellte müssen gestoppt werden. 

3. Notwendige finanzielle Mittel bereitstellen 

  • Die Bundesregierung muss die für die Mobilitätswende notwendigen finanziellen Mittel bereitstellen und beim Aufbau der benötigten personellen Kapazitäten unterstützen. Dazu gehört die Unterstützung von Kommunen mit Finanzmitteln zum Aufbau eigener Planungskapazitäten und Beauftragung von Planungsbüros ebenso wie die Unterstützung bei der Finanzierung von Bau von Infrastruktur sowie beim Betrieb des ÖPNV. 
  • Um die notwendigen Mittel zu generieren, müssen Subventionen wie Dieselvergünstigung, Pendlerpauschale und Dienstwagenprivileg für Kraftfahrzeuge zügig abgebaut werden. Hierdurch werden jährlich Summen in Milliardenhöhe freigesetzt, die dann in den Umbau in Richtung nachhaltiger Mobilität investiert werden können. Heutige Investitionen stehen zukünftigen Ersparnissen gegenüber – in Form von geringeren Kosten für das Gesundheitswesen, weniger Ausgaben für Klimaanpassungsmaßnahmen und geringeren Ressourcenverbrauch, um nur einige der Vorteile zu nennen. 
  • Auch auf individueller Ebene müssen Bürger*innen bei der Mobilitätswende unterstützt werden. Es braucht bundesweite Kaufprämien für Lastenräder und E-Bikes.

 

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