Zeitliche Belastungen der Haushalte ungleich verteilt
„Die Leistungsangebote der Pflegeversicherung sind in den letzten Jahren deutlich ausgebaut und flexibler gestaltet worden. Trotzdem ist jede vierte Person, die einen Angehörigen zu Hause pflegt, durch die Pflege insgesamt hoch belastet“, sagt Dr. Antje Schwinger, Leiterin des Forschungsbereichs Pflege im WIdO und Mitherausgeberin des Pflege-Reports. „Gleichzeitig machen die Ergebnisse unserer Befragung deutlich, dass die zeitliche Belastung durch die Pflege sehr ungleich verteilt ist.“ So wendet die Hälfte der pflegenden Angehörigen rund vier Stunden und weniger pro Tag für die Pflege auf, während ein Viertel der Haushalte mindestens siebeneinhalb Stunden (7,6 Stunden) pro Tag leistet. Haushalte, in denen Menschen mit den Pflegegraden 3 bis 5 oder mit einer demenziellen Erkrankung gepflegt werden, sind besonders stark gefordert: Hier leistet ein Viertel der betroffenen Haushalte rund zehn Stunden Pflegearbeit pro Tag. Jeder zehnte dieser Haushalte gibt sogar Pflegezeiten von 20 Stunden und mehr pro Tag an.
Insgesamt ergab sich auf Basis der sogenannten „Häusliche-Pflege-Skala“ (HPS), die unter anderem Fragen zur körperlichen Erschöpfung, Lebenszufriedenheit und psychischen Belastung umfasst, für knapp 26 Prozent der befragten Pflegepersonen eine „hohe Belastung“. Für 43 Prozent wurde eine mittlere Belastung festgestellt, nur bei knapp 31 Prozent der Pflegenden ist sie niedrig.
Ambulante Pflege: Finanzielle Eigenanteile im Durchschnitt bei 250 Euro pro Monat
Die finanziellen Aufwendungen der Haushalte, in denen Angehörige gepflegt werden, halten sich dagegen in Grenzen: Die Befragung zeigt, dass überhaupt nur jeder vierte Pflegebedürfte (25 Prozent) selbst Eigenleistungen für die Pflege und Betreuung zu Hause zu tragen hat. In diesem Fall liegen sie im Durchschnitt bei rund 250 Euro im Monat. Auch Haushalte, die Sachleistungen der Pflegeversicherung wie einen Pflegedienst oder Tagespflege nutzen, sind nur zu knapp 40 Prozent von Eigenanteilen betroffen. Sie zahlen dann im Schnitt etwa 200 Euro pro Monat. Nur fünf Prozent der Befragten gaben an, zusätzlich privat weitere Hilfen zu bezahlen. „Insgesamt zeigen sich deutlich geringere finanzielle Belastungen als in der vollstationären Pflege, wo die Eigenanteile – und zwar nur für Pflege und Betreuung – im vergleichbaren Zeitraum zur Befragung im 4. Quartal 2019 im Durchschnitt 775 Euro betrugen“, so Pflege-Expertin Schwinger.
Die Probleme der meisten Befragten liegen eher in anderen Bereichen: Die Hälfte der Befragungsteilnehmer äußert den Wunsch nach mehr Unterstützung in den Bereichen „Körperpflege, Ernährung und Mobilität“, beim Thema „Betreuung und Beschäftigung im Alltag“ sowie bei der „Führung des Haushalts“. Bei pflegenden Angehörigen, die laut Häusliche-Pflege-Skala „hoch belastet“ sind, ist der Wunsch nach Unterstützung in den genannten Bereichen noch deutlich stärker ausgeprägt: Bis zu 75 Prozent dieser Personen wünschen sich mehr Unterstützung. Das gilt auch für andere abgefragte Bereiche wie “Hilfe in der Nacht“. Insgesamt fühlt sich jeder fünfte Befragte (22 Prozent) bei der Bewältigung der Pflege „eher nicht gut“ oder „überhaupt nicht gut“ unterstützt (Abbildung 4). Jeder Vierte (25 Prozent) kann die Pflegesituation nach eigener Auskunft „nur noch unter Schwierigkeiten“ oder „eigentlich gar nicht mehr“ bewältigen. Unter den pflegenden Angehörigen, die Demenz-kranke oder Menschen mit den höheren Pflegegraden 3 bis 5 versorgen, betrifft dies sogar jeweils rund ein Drittel der Befragten.
Schwinger: Individuelle Bedarfe der Betroffenen stärker in den Blick nehmen
„Es greift zu kurz, bei der Weiterentwicklung der Pflegeversicherung nur über eine Begrenzung der Eigenanteile für Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeheimen zu sprechen“, kommentiert Schwinger die Ergebnisse der Befragung. „Auch in der häuslichen Pflege gibt es erhebliche Belastungen.“ Diese seien aber nicht in erster Linie finanzieller Art, sondern lägen vor allem in der zeitlichen und emotionalen Belastung der Personen, die hauptsächlich für die Pflege zuständig sind. Hier sei das Bild sehr heterogen – von relativ entspannten Pflege-Situationen bis zu pflegenden Angehörigen, die mit ihrer Kraft am Ende seien und dringend Unterstützung bräuchten. „Deshalb müssen wir auch in der ambulanten Pflege die individuell sehr unterschiedlichen Bedarfslagen der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen stärker in den Blick nehmen“, fordert Schwinger. Bemerkenswert sei, dass jeder vierte Befragte eine hohe subjektive Belastung angebe. „Frühere Befragungen zeigten hier wesentlich geringere Anteile. Auch wenn die Befragungen unterschiedliche methodische Zugänge aufweisen, wirft dies Fragen auf, was den Erfolg der Reformbemühungen in den letzten Jahren angeht“, so Schwinger. Die Leistungen und Hilfen der Pflegeversicherung müssten noch stärker differenziert und gezielt den Haushalten gewährt werden, die einen besonders hohen Bedarf haben oder sich sogar in einer Krisensituation befinden. „Ein gezielterer Einsatz der Mittel ist auch angesichts des enger werdenden Finanzierungsspielraums der Pflegeversicherung dringend geboten.“
In die Befragung für den Pflege-Report des WIdO wurden insgesamt rund 1.100 Personen ab 18 Jahren einbezogen, die nach eigenen Angaben Haupt-Pflegepersonen einer zu Hause gepflegten Person mit anerkanntem Pflegegrad sind. Es handelte sich um eine Online-Befragung auf Basis des „forsa.omninet-Panels“ zwischen Dezember 2019 und Mitte Januar 2020. Die Ergebnisse wurden so gewichtet, dass sie hinsichtlich des Pflege-Schweregrades sowie der Alters- und Geschlechtsverteilung repräsentativ für die Pflegebedürftigen in Deutschland sind.
Pflege-Report 2020 zur strukturellen Neuausrichtung von Pflegeversorgung und -finanzierung
Die Befragung zur Situation in der ambulanten Pflege ist Gegenstand eines Beitrags im Pflege-Report 2020 des WIdO, der heute veröffentlicht wird. Die in Zusammenarbeit mit Prof. Adelheid Kuhlmey von der Charité Berlin und Prof. Stefan Greß von der Hochschule Fulda herausgegebene Publikation, die auch zum kostenfreien Download angeboten wird, hat in diesem Jahr das Schwerpunktthema „Neuausrichtung von Versorgung und Finanzierung“. In insgesamt 15 Beiträgen ausgewiesener Fachleute werden erforderliche Reformmaßnahmen zur strukturellen Neuausrichtung der Pflegeversorgung und -finanzierung beleuchtet. Entgegen dem in der aktuellen Reformdebatte oftmals vorherrschenden Eindruck betrifft das keineswegs allein Reformen der Finanzierungsstrukturen, sondern vor allem auch notwendige Reformen der Leistungs- und Steuerungsstrukturen der Pflegeversorgung.
Klaus Jacobs, Adelheid Kuhlmey, Stefan Greß, Jürgen Klauber, Antje Schwinger (Hrsg.): Pflege-Report 2020. Neuausrichtung von Versorgung und Finanzierung
Mehr Infos unter www.wido.de/publikationen-produkte/buchreihen/pflege-report
Open-Access-Publikation: https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-662-61362-7
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