Auffallend ist vor allem der starke Rückgang polnischer Zuwanderer, von über 20.000 auf unter 2.000 innerhalb eines Jahres. Überraschend kräftig stieg dagegen die Zuwanderung aus Indien. Von dort kamen netto 21.700 Einwanderer im Jahr 2019 nach 16.875 im Jahr 2018. Damit lag es nach Rumänien und Syrien auf Rang 3 der wichtigsten Herkunftsländer.
Im Jahr 2020 dürfte die Zuwanderung Corona-bedingt einbrechen. Vermutlich werden deutlich weniger als 200.000 Zuwanderer nach Deutschland kommen. Die Entwicklung im Jahr 2021 hängt sowohl von der wirtschaftlichen als auch epidemiologischen Erholung ab. Perspektivisch könnte unser leistungsfähiges Gesundheitssystem Deutschlands Attraktivität für Zuwanderer verbessern. Insbesondere die außereuropäische Zuwanderung könnte sowohl wegen des effizienten Umgangs mit der Pandemie als auch aufgrund des jüngst verabschiedeten Fachkräfteeinwanderungsgesetzes an Dynamik gewinnen.
Orientiert man sich an den Projektionen mit hohen Zuwanderungsraten des Statistischen Bundesamts von mehr als 300.000 Personen pro Jahr, dann steigt die Bevölkerung bis Anfang der 2030er Jahre auf über 84 Mio. Einwohner an und sinkt erst anschließend langsam ab. Im Hinblick auf die negativen Wachstumseffekte einer alternden Gesellschaft wäre dies hochwillkommen.
Im letzten Jahrzehnt war Deutschland außerordentlich attraktiv
Die Zuwanderung ist ein wichtiger Baustein für das Arbeitskräftepotenzial und damit das Wirtschaftswachstum in Deutschland. Perspektivisch nimmt ihre Bedeutung weiter zu, da viele heutige Arbeitnehmer bis zum Jahr 2030 das Rentenalter erreichen und der Nachwuchs fehlt. Gleichzeitig ist die Zuwanderung ein wichtiger Faktor für die wirtschaftliche Entwicklung infrastrukturschwacher Regionen, da sich aufgrund der Engpässe insbesondere im Wohnungsmarkt die Zuwanderung zunehmend auch auf den Randbereich von Metropolregionen und darüber hinaus verteilt hat. Ebenso ist sie ein bedeutender Treiber für die Wohnungsnachfrage. Kumuliert über das abgelaufene Jahrzehnt sind netto 4,5 Mio.
Personen nach Deutschland eingewandert und das Erwerbspersonenpotenzial erhöhte sich um rund 2 Mio. auf 47 Mio. Personen. Wie sehr die altersbedingten Effekte bereits in diesem Jahrzehnt waren, lässt sich an dem deutlich geringeren Anstieg der Einwohnerzahl ablesen. Diese erhöhte sich lediglich um 2,8 Mio. Einwohner auf 83,1 Mio. Deutschlands künftige wirtschaftliche Entwicklung könnte also stark von der Zuwanderung abhängen. Dabei gab es in den letzten Jahren einige interessante länderspezifische Tendenzen, die sich künftig noch verstärken könnten.
Zuwanderung im Jahr 2019 rückläufig
Im Jahr 2019 betrug laut offiziellen Zahlen die Nettozuwanderung nach Deutschland +327.100. Ein deutlicher Rückgang gegenüber den Vorjahren, in denen jeweils 400.000 oder mehr Zuwanderer zu verzeichnen waren. Im Jahr 2019 blieben, wie in den Vorjahren, die osteuropäischen EU-Staaten die Hauptherkunftsländer. Jedoch wanderten im Jahr 2018 noch mehr als 150.000 Personen aus dieser Region ein, während es im Jahr 2019 weniger als 92.000 waren. Auffallend ist vor allem der starke Rückgang aus Polen. Von dort ging die Nettozuwanderung von über 20.000 auf unter 2.000 innerhalb eines Jahres zurück. Das Statistische Bundesamt nennt als einen Grund einen Meldeeffekt im Rahmen der Europäischen Parlamentswahl. Die lahmende Konjunktur dürfte aber auch eine Rolle gespielt haben. So sank die Zahl der Beschäftigten in Zeitarbeit von über 800.000 Ende des Jahres 2018 auf unter 700.000 Ende des Jahres 2019. Dies hat Deutschland als Zuwanderungsland weniger attraktiv gemacht.
Die Zuwanderung aus dem arabischen und persischen Raum ist wohl unabhängig von der wirtschaftlichen Lage gegenüber dem Vorjahr leicht rückläufig gewesen. Dagegen erhöhte sich die Zahl der Nettozuwanderer aus den europäischen Nicht-EU-Staaten auf fast 100.000 und damit um rund 20% gegenüber Vorjahr. Zu diesen Ländern zählen Länder mit großer Einwohnerzahl wie Russland, die Türkei und die Ukraine. Die kleinen Balkanstaaten sind in Summe mit mehr als 60.000 Zuwanderern aber von größerer Bedeutung. Auch aus den asiatischen Ländern erhöhte sich die Nettozuwanderung leicht um rund 10% auf 34.100 Personen. Allein aus Indien kamen netto 21.700 Einwanderer. Damit lag es nach Rumänien und Syrien auf Rang 3 der wichtigsten Herkunftsländer und für die Hauptstadt Berlin mit seinem dynamischen IT- und Startup-Sektor war Indien bereits im Jahr 2018 das Herkunftsland Nummer eins. Zudem war bundesweit über das gesamte letzte Jahrzehnt ein stetiger Anstieg der Zuwanderung aus Indien zu verzeichnen.
Im Jahr 2020: Zuwanderung dürfte auf tiefsten Stand seit zehn Jahren fallen
Im Jahr 2020 ist die Zuwanderung während des Kontaktverbots und des Wiederhochfahrens der EU-Binnengrenzen kräftig eingebrochen. Mit einer Zuwanderung von 7.600 Personen im März 2020 war die niedrigste Zuwanderung im Monat März seit dem Jahr 2010 zu verzeichnen. Auch in den Folgemonaten war die Nettozuwanderung vermutlich sehr niedrig, bisweilen möglicherweise sogar negativ. Trotz der erwarteten graduellen Erholung im zweiten Halbjahr dürfte der jährliche Zuwanderungssaldo wohl deutlich unter 200.000 liegen und damit auf den niedrigsten Wert seit dem Jahr 2010 zurückfallen.
In den Folgejahren: Außereuropäische Zuwanderung könnte an Bedeutung gewinnen
Die Entwicklung im Jahr 2021 dürfte sowohl von der epidemiologischen Situation in Deutschland relativ zu den Herkunftsländern als auch der Wirtschaftsdynamik abhängen. Je schneller die globale Wirtschaft wieder Fuß fasst, desto schneller laufen auch die Exportindustrie und die Nachfrage nach Arbeitskräften wieder rund. Im Hinblick darauf ist die wirtschaftliche Entwicklung in China ermutigend, während sie in unserem Hauptabsatzmarkt USA je nach Bundesstaat sehr heterogen ist. Wird die globale Wirtschaftskrise schnell überwunden und suchen deutsche Unternehmer wieder vermehrt Arbeitskräfte (im Jahr 2020 ist die Zahl der offenen Stellen von über 700.000 auf unter 600.000 eingebrochen), dann dürfte auch die Zuwanderung wieder kräftig anziehen. Dies gilt umso mehr, je besser die epidemiologische Lage und die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssektors in Deutschland im Vergleich zu den Herkunftsländern ist.
Wirtschaftskrisen erhöhen regelmäßig bilaterale Zuwanderung
Viele epidemiologische Daten deuten darauf hin, dass Deutschland die Corona-Krise besser überwindet als viele andere Länder.1 Sowohl während der Eurokrise oder auch des Brexit erhöhte sich die Zuwanderung nach Deutschland regelmäßig. Gleichzeitig war über das gesamte letzte Jahrzehnt die jährliche Zuwanderung von Großbritannien und Italien nach Deutschland positiv und kumuliert wanderten aus Großbritannien 27.000 und aus Italien sogar mehr als 150.000 Personen ein. Gemäß dieser Beobachtung könnte die Corona-Krise zu weiteren Zuwanderungsimpulsen führen. Dies gilt womöglich auch für einige osteuropäische EU-Länder, welche bisher relativ gut durch die Corona-Krise kamen, nun aber trotz relativ kleiner Testquoten steigende Infektionszahlen vermelden. Auch von außerhalb der EU könnte die Zuwanderung in den kommenden Jahren zulegen. In den letzten Wochen steuern einige bevölkerungsreiche Länder auf eine immer tiefere Gesundheitskrise zu. Dazu kann man Russland und Indien zählen, die wie beschrieben schon bisher bedeutende Zuwanderungsländer waren. Darunter befinden sich aber auch Brasilien und die USA, die im Jahr 2019 nur zu den 30 wichtigsten Herkunftsländern gehörten und eine Nettozuwanderung in Höhe von jeweils rund 4.000 Personen aufwiesen. Das seit 1. März 2020 gültige Fachkräfteeinwanderungsgesetz könnte dabei die globale Nachfrage nach Arbeitsplätzen steuern. Sobald der Arbeitsmarkt wieder Vollbeschäftigung erreicht, könnte der Wegfall der Vorrangprüfung einen kräftigen Zuwanderungsschub auslösen. Wächst beispielsweise die Nettozuwanderung aus Indien wie bisher weiterhin nichtlinear, dann wäre Indien bereits Mitte des kommenden Jahrzehntes das Hauptherkunftsland. Insbesondere der deutsche IT-Sektor, der händeringend Spezialisten sucht, könnte von dem Zuzug indischer Fachkräften profitieren. Aber auch insgesamt könnte diese Zuwanderung das strukturelle Wachstum stärken. Im abgelaufenen Jahrzehnt erfolgte die Zuwanderung oftmals aufgrund der EU-Freizügigkeit oder aus humanitären Gründen. Deswegen wirkte die Zuwanderung – beispielsweise wegen der gesteigerten Wohnungsnachfrage oder den höheren Staatsausgaben – oftmals nur zyklisch wachstumsfördernd.
Im Zuwanderungs-Szenario wächst die Bevölkerung über das Jahr 2030 hinaus
Angesichts dieser Überlegungen tendieren wir dazu, die Nettozuwanderung über das gesamte kommende Jahrzehnt relativ hoch anzusetzen. Orientiert man sich an den Berechnungen des Statistischen Bundesamts und den Varianten mit hohen Zuwanderungsraten von mehr als 300.000 Personen pro Jahr, dann wächst die Bevölkerung auf über 84 Mio. Einwohner bis Anfang der 2030er Jahre und sinkt im Anschluss bis zum Jahr 2060 auf wieder 83 Mio. Einwohner. Für die Wohnungs- und Immobilienmärkte implizieren diese Vorausberechnungen weitere Nachfrageimpulse. Diese verstärken folglich den aktuellen Zyklus im Wohnungsmarkt bzw. federn für die Gewerbeimmobilienmärkte die negativen Folgen der Pandemie ab. Im Hinblick auf die negativen Wachstumseffekte einer alternden Gesellschaft ist die Zuwanderung hochwillkommen und könnte die Sozialsysteme sogar entlasten. Womöglich ist die soziale Integration dieser Zuwanderungsbewegungen dann auch deutlich einfacher zu realisieren als in den vergangenen Jahrzehnten.
1 Schneider, Stefan et al. (2020). Krisenresilienz made in Germany. Deutschland-Monitor. Deutsche Bank Research. 6. Juli.
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