Es gibt sicherlich keinen Lebensbereich, den die Begleitumstände der Corona-Pandemie unberührt gelassen hätten. Egal, ob Beruf, Schule, Einkauf, Hobby, Reisen – die Einschränkungen sind vielfältig, die Auswirkungen noch nicht abzusehen und die Dauer noch völlig offen. Für Menschen, die in besonderen Situationen leben, stellen Betretungsverbote, Kontaktsperren und Verhaltensregeln in der Regel noch größere Belastungen dar – häufig treffen die Maßnahmen hier Menschen, die einerseits schlecht damit umgehen können und andererseits von einem Tag zum anderen ihrer gesellschaftlichen Teilhabe entledigt wurden.

Die Arbeitsgruppe AGTiV (AG Teilhabe im Vogelsberg) hat diese Problematik von Menschen mit Unterstützungs- und Betreuungsbedarf in einem Gespräch mit Landrat Manfred Görig thematisiert und fordert sowohl von der Politik als auch von der Öffentlichkeit mehr Aufmerksamkeit und Akzeptanz. An der Videokonferenz vor wenigen Tagen nahm neben dem Landrat auch Dr. Henrik Reygers, kommissarischer Leiter des Gesundheitsamts teil. Die Kritikpunkte, die dabei zur Sprache kamen, nahm der Landrat auf und versprach, diese mit in die Landesregierung zu tragen, um auf politischer Ebene die Interessen von Menschen mit Unterstützungs- und Betreuungsbedarf zu vertreten und Verbesserungen zu erreichen.

In einer Unterarbeitsgruppe wurde die Situation durch Harry Bernardis, Leiter der Vogelsberger Lebensräume, Oliver Hampel, Regionalleiter der Schottener Sozialen Dienste, Matthias Gold, Leiter des Beratungszentrums Vogelsberg, und Frank Haberzettl, Vorstand von Kompass Leben e.V., vertiefend erörtert:

„In dieser Krise zeigt sich ganz schnell, dass für Menschen, die aufgrund einer psychischen Erkrankung oder einer geistigen Behinderung in Einrichtungen leben und arbeiten oder beides, wie für Menschen, die ambulant betreut werden, nicht mitgedacht wurde“, stellte das Gremium fest: „Inklusion und Teilhabe, wie sie sowohl die UN-Behindertenrechtskonvention als auch das Bundesteilhabegesetz vorsehen, sind hier ganz schnell an ihre Grenzen gekommen. Wir fordern daher von der Landespolitik eine Überprüfung der Vorgaben und eine Umsetzung derselben.“ Während die Öffentlichkeit zu Recht wahrnehme, welche großartigen Leistungen Beschäftigte in Pflegeheimen und Krankhäusern, Schulen oder Kindergärten in diesen Zeiten erbringen, würden diejenigen, die in Einrichtungen der Eingliederungshilfe arbeiten, kaum gesehen, von einer zusätzlichen Prämie für solche Mitarbeitenden ganz zu schweigen. Dabei leisteten auch sie tagtäglich einen großen Beitrag zum Überstehen einer Krise, die die Gesellschaft so noch nie erlebt hat. „Die Corona-Krise ist eine bisher nie dagewesene Herausforderung für alle Stellen, und wir stehen grundsätzlich hinter den Schutzkonzepten der Regierung“, betonen die AG-Mitglieder. „Was wir aber feststellen, ist, dass der Vielfalt der Menschen mit Unterstützungsbedarf nicht Rechnung getragen wird.“ Die Pauschalisierung, mit der Verbote und Richtlinien erlassen und umgesetzt würden, spreche Bände, beklagt das Gremium. Die Vielfalt der Menschen und ihrer Bedarfe würde dabei komplett unterschlagen, die Kompetenz und Verantwortlichkeit der zuständigen Einrichtungen völlig untergraben. „Man hätte durchaus Konzepte entwickeln können, die den verschiedenen Leistungsempfängern gerecht geworden wären“, zeigt sich das Gremium überzeugt.

Wie verantwortlich dieses Vorgehen sein könnte, sehe man an verschiedenen Maßnahmen, die bereits sehr frühzeitig vorgenommen wurden, um die Menschen in den Einrichtungen zu schützen. So habe man beispielsweise für Wohnstätten für Menschen mit Behinderung frühzeitig ein Besuchsverbot verhängt, um einen Ausbruch von COVID-19 hier zu verhindern. Da vielen der dort lebenden Personen schwer verständlich zu machen ist, dass sie Abstand halten und einen Mundschutz tragen müssen, hätte ein Ausbruch hier dramatische Folgen gehabt. Gleichzeitig stellten Betretungsverbote der Werkstätten und das Einstellen von Beratungsangeboten für die Menschen große Härten dar, weil sie dadurch nicht nur auf ihre Tagesstruktur und große Teile ihres sozialen Lebens verzichten müssten, sondern eben auch auf professionelle Unterstützung in ihrer jeweiligen Situation: „Symptome und Auswirkungen einer Depression können sich unter sozialem und therapeutischen Entzug massiv verschlimmern“, so die Erfahrung aus den Beratungsstellen und Betreuungseinrichtungen: „Teilhabe ist eben nicht nur versorgt und untergebracht zu sein, sondern auch eine Tagesstruktur zu haben, eine Anlaufstelle mit vertrauten sozialen Kontakten – dieser Aspekt wurde bisher völlig vernachlässigt.“

Landrat Manfred Görig hörte die Kritik der verschiedenen Einrichtungen und unterstrich deren Bedeutung. „Ich stelle mich hinter die Forderungen von AGTiV und werde mein Möglichstes tun, damit Menschen mit Unterstützungsbedarf auch in diesen Zeiten ihr Recht auf Teilhabe ausüben können.“ In der öffentlichen Wahrnehmung und in den Betrachtungen der Politik sollten die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung ebenso wie die Verdienste des Betreuungs-, Anleitungs- und Versorgungspersonals durchaus eine angemessene Rolle spielen, fand er und sagte seine Unterstützung des Appells auf Landesebene zu.

Die Lockerungen der Regelungen, die nun in Hessen eintreten, kommen den Einrichtungen, den Mitarbeitenden und den Klienten sehr entgegen: „Wir freuen uns sehr, dass wir beispielsweise unseren Werkstattbetrieb und die Tagesstätten wieder hochfahren können, wenn auch zunächst begrenzt“, so die Verantwortlichen aus den einzelnen Einrichtungen. „Erste Erfahrungen mit unserem Hygienekonzept konnten wir im Einsatz unserer systemrelevanten Arbeitsbereiche schon sammeln – und sie waren alle positiv und bestätigen unsere Kompetenz und Expertise.“ Auch andere Einrichtungen wie beispielsweise das Beratungszentrum haben ihr Beratungsangebot wieder ausgebaut: Schon während der Krise hatten telefonische Beratungen stattgefunden, die später auf „Walk and talk-Angebote“, also die Beratung beim Gehen im Freien, erweitert wurden. Seit einiger Zeit können auch wieder Einzelberatungen in gebührendem Abstand angeboten werden, und man hofft hier, dass sich auch bald wieder Gruppen treffen können.

Der Gesetzgeber habe es sich sowohl mit der Pauschalisierung der Einschränkungen als auch mit den unkonkreten Bestimmungen der Öffnungen sehr einfach gemacht, bemängelt das Gremium. Nichtsdestotrotz sehen sich die Einrichtungen, die sich unter der AGTiV zusammengeschlossen haben, kompetent genug, um verantwortlich mit dem Infektionsschutz in den Werkstätten, den Beratungsräumen und an anderen Orten umzugehen, betonen alle Beteiligten: „Wir freuen uns, dass sowohl die Einrichtungen als auch die Menschen, die in den verschiedensten Häusern versorgt und betreut werden, jetzt wieder mehr Selbstbestimmung erlangen können.“

Information:
Bei der AGTiV handelt es sich um einen Zusammenschluss verschiedener Einrichtungen und Dienste der Region sowie von Vertretern von Landeswohlfahrtsverband und der Kreisverwaltung. Die AGTiV blickt inhaltlich bereits auf mehrere Jahrzehnte der Kooperation verschiedenster Träger und Einrichtungen zurück, als AG institutionalisiert hat sie sich vor ca. zwei Jahren mit dem Ziel, die Belange von Menschen mit Unterstützungsbedarf im Vogelsbergkreis unter Berücksichtigung des Bundesteilhabegesetzes um- und durchzusetzen.

(Mitglieder der AGTiV sind das Eichhof-Krankenhaus, die Aids-Hilfe Fulda, das Beratungszentrum Vogelsberg, das DRK Lauterbach, das Diakonische Werk Lauterbach, die Gemeinschaft Altenschlirf, das Haus am Kirschberg, das Haus Leonie, Hephata, Kompass Leben e.V., die Lebensgemeinschaft Sassen, der Melchiorsgrund, die Schottener Sozialen Dienste, die Vogelsberger Lebensräume, der LWV Hessen und von der Kreisverwaltung das Amt für Soziale Sicherung, das Gesundheitsamt und das Jugendamt.)

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