Haben Sie vielleicht Vergnügen an doppelten Böden? Dann sind Sie richtig beim ersten der insgesamt fünf Angebote, die wie immer eine Woche lang zum Sonderpreis im E-Book-Shop www.edition-digital.de (Freitag, 10.1.20 – Freitag, 17.1. 20) zu haben sind. Denn in seinen doppelbödigen Humoresken unter dem Titel „Die frühe Katze fängt den Vogel, der den späten Wurm verschmäht“ hat Guido Pauly seine Beobachtungen der Wirklichkeit auf kongeniale Weise zusammengefasst. Doppelbödig und vergnüglich.

Mein Besuch bei den Ahnen. Fast 200 Jahre Familiengeschichte(n) aus Sachsen, Böhmen/Mähren, Niederschlesien und Bayern“ von Werner Müller präsentiert die Ergebnisse intensiver Familiengeschichtsforschung, die möglicherweise auch für andere Familien interessant und anregend sein können.

In „Das Jakobsweg-Komplott“ von Ulrich Hinse erleben wir Kriminalhauptkommissar Raschke aus Mecklenburg-Vorpommern im Urlaub und – in unerwarteten Schwierigkeiten. Im Übrigen erscheint am 10. Februar unter dem Titel „The Way of St. James Conspiracy“ die englische Fassung dieses spannenden Titels, die ebenfalls preisgesenkt ist.

Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Und da hat die Literatur schon immer ein gewichtiges Wort mitzureden und heute erst recht. Diesmal geht es um die großen Themen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, die anhand eines damals aktuellen historischen Beispiels dargestellt werden. Der Autor war Anfang der Siebzigerjahre des vorigen Jahrhunderts selbst sehr dicht dran an dem Geschehen – und an der berühmten Hauptperson und Angeklagten.

Erstmals 1973 veröffentlichte Walter Kaufmann im Verlag der Nation Berlin „Unterwegs zu Angela. Amerikanische Impressionen“: In dieser im Jahr nach dem Freispruch in allen Anklagepunkte für die amerikanische Bürgerrechtlerin Angela Davis geschriebenen packenden Reportage gelingt Walter Kaufmann ein lebendiges Porträt der damals 29-jährigen Angela Davis. Kaufmann berichtet von ihrer Kindheit und Jugend, ihrer politischen Entwicklung, von der Arbeit der Solidaritätskomitees für Angela Davis und von den Vorgängen vor und während des gegen sie angestrengten Prozesses. Zugleich bietet „Unterwegs zu Angela“ aufschlussreiche Einblicke in die US-amerikanische Gesellschaft dieser Zeit – von den Ungerechtigkeiten gegenüber der schwarzen Bevölkerung bis zum Thema Todesstrafe. Am Anfang seines auch fast fünf Jahrzehnte später noch immer spannend zu lesenden Berichts kommt Angela Davis, die „Heldin des anderen Amerika“, wie sie in der DDR genannt wurde, selbst zu Wort – nach ihrem Sieg, den sie allerdings anders bezeichnet:

Welch ein wundervoller Augenblick!

Von Angela Davis
Madison Square Garden
New York, 29. Juni 1972

Welch ein wundervoller, wundervoller Augenblick. Wer hätte sich vor zweiundzwanzig langen Monaten vorgestellt, dass Tausende, aber Tausende von uns hier im Madison Square Garden einen großartigen Sieg des Volkes feiern würden. Nicht meinen Sieg. Denn wir feiern nicht nur, dass ich nun wieder frei bin, frei, mit euch gemeinsam die Straßen des Kampfes zu beschreiten. Was wir wirklich feiern, Schwestern und Brüder, ist unsere Fähigkeit, den Herrschenden dieses Staates eine machtvolle, unmissverständliche Niederlage bereiten zu können.

Daher müssen wir heute Abend über die Kraft des Volkes sprechen, über alle die Schwestern und Brüder, die so viel darangesetzt haben, um die zahllosen Verteidigungskomitees ins Leben zu rufen. Wir sollten all jenen Schwestern und Brüdern mit lautem, donnerndem Applaus danken. Ich hoffe, dass das Echo des wundervollen, brausenden Beifalls den Herren in den Ohren dröhnt: den Nixons und den Rockefellers, den Reagans und ihren Irrsinns-Polizeikräften, mit ihren Gerichtshöfen, die Urteile durchpeitschen, und mit ihren erbärmlichen Gefängnissen.

Wir müssen gegen eine ganze Klasse kämpfen!

Ich habe die Tatsache, dass ich Kommunistin bin, nie zu verbergen versucht. Ich will auch heute Abend kein Geheimnis daraus machen, was ich meine, wenn ich von den Personen spreche, die dieses Land regieren. Es sind Leute, die ihre Polizeikräfte zu Wahnsinnsunternehmungen in die Gettos schicken und ihre Armeen mit computergesteuertem Tod für das vietnamesische Volk über das Meer senden. Und sprechen wir auch von den multimilliardenschweren Konzernen, die in Wirklichkeit die Regierung an der Strippe haben.

Ja, Schwestern und Brüder, wir müssen klar erkennen, dass wir gegen eine ganze Klasse zu kämpfen haben – gegen die herrschende, profitgierige, machthungrige Klasse. Und diese herrschende Klasse, meine ich, müssen wir endlich stürzen. Ja, stürzen! Das heißt, wenn uns wirklich ernstlich daran gelegen ist, frei zu sein. Wir müssen zusehen, dass eine Bewegung formiert wird, die machtvoll genug ist, diese gesamte herrschende Klasse zu entthronen. Das ist der einzige Weg, dieses Land, ja die Welt, von all den Krankheiten zu heilen und zu reinigen: von Rassismus, Krieg und Armut. Und wenn wir von einer Alternative zum herrschenden System sprechen, nun, dann meine ich, dass wir anfangen sollten, über Sozialismus zu reden.

Nicht bloß Schwarze und andere Farbige, sondern auch eine große Anzahl weißer Menschen lassen sich nicht zu Konformität und Untätigkeit einlullen, wenn Nixon nach Billigung brüllt, während seine Marine- und Luftwaffenverbände die Häfen Vietnams verminen. Immer mehr Menschen fangen an, den Trug und die Tücke der Herrschenden zu durchschauen.

Und wenn wir Arbeiter sind, beginnen wir zu begreifen, dass wir in den Augen der Herrschenden bloß hirnlose, fühllose Wesen sind, deren Arbeit ihnen lediglich die Taschen noch mehr füllen soll. Sind wir Schwarze oder Puerto Ricaner, sollte uns klar sein, dass wir die niedrig bezahlte Arbeit, die wir kriegen, bloß nehmen, weil wir sonst überhaupt keine Arbeit bekommen würden. All die ungeheuerliche Ausbeutung in den Betrieben bildet die Basis eines sehr einträglichen, wirklich sehr einträglichen Geschäfts für die herrschende Klasse.

Und wenn wir an ein Leben des Elends und der Qual im Getto gekettet sind, aber den verfallenen Häusern zu entfliehen trachten, die uns habsüchtige Besitzer vermieten, ist uns klar, dass wir damit potenzielle Opfer polizeilichen Zugriffs werden. Und werden wir nicht Opfer der Polizei, dann können wir deren Komplizen zum Opfer fallen – den Rauschgifthändlern. Ja, ich rede von den Rauschgifthändlern, die uns ein illusionäres Glück, Apathie und Schlaf bringen wollen. Wir sollten wirklich darüber nachdenken, wie wir uns zur Vorbereitung eines gemeinsamen Angriffs auf das System zusammenschließen können.

Oder wenn wir in dieser Gesellschaftsordnung als Frauen aufstehen und uns weigern, die Sage unserer Minderwertigkeit länger hinzunehmen; wenn wir herausschreien, dass wir unsere Stärke kennen und genau wissen, wer die tatsächlichen Feinde sind, dann lässt diese Gesellschaft all ihre Schrecken auf uns los. Als schwarze Frauen haben wir nicht vergessen, dass unsere Schwestern, die sich gegen die Sklavenhalter auflehnten, geköpft oder wie Hexen auf Scheiterhaufen verbrannt wurden. Das war der Preis ihres Ringens um Freiheit.

Ich möchte von einer jungen, zwölfjährigen schwarzen Schwester aus der Bronx sprechen: ein großartiges, tapferes Mädchen, das einen Aufsatz über die Bewunderung schrieb, die sie für mich hegt. Und was geschah mit dem Aufsatz? Ihr weißer Lehrer gab ihn ihr mit der schriftlichen Bemerkung zurück: „Konntest du niemand anders finden? Musst du ausgerechnet dieses kommunistische Teufelsweib bewundern?“

Das ist Teil der Unterdrückung, über deren Bekämpfung wir reden müssen. Wir sind es müde und haben es über, dass man uns manipuliert und hypnotisiert – uns eintrichtern will, wir wären gegenüber dem riesigen Apparat, der uns unterdrückt, machtlos. Wenn wir davon sprechen, unsere Kraft in einer revolutionären Bewegung zu organisieren, die alle Unterdrückten dieser Gesellschaft umfasst, dann werden wir für die Herrschenden eine sehr gefährliche Bedrohung.

Wir haben erfahren, dass wir es schaffen können!

Ich nenne Malcolm X oder Patrice Lumumba oder Fred Hampton oder Martin Luther King oder George Jackson – wenn wir uns erheben wie sie und den Herrschenden die Stirn bieten, versuchen sie uns mit ihren Mörderkugeln das Gehirn zu zerschmettern. Und wenn wir Ruchell Magee oder Fleeta Drumgo sind oder die unzähligen Brüder im San Quentin Adjustment Center oder die vielen anderen Schwestern und Brüder in den Kerkern überall im Land, unternehmen die Herrschenden, was sie nur können, um uns lebenslänglich im Gefängnis festzuhalten, uns von den Menschen zu trennen.

Wenn wir Billy Dean Smith sind und den Krieg in Vietnam nicht mitmachen wollen, dann wartet Gewahrsam hinter Palisaden auf uns. Und wenn wir in Attica festgesetzte Schwarze oder Weiße sind, die sich entschließen, gegen die elendiglichen Haftbedingungen zu protestieren, und wenn wir beschließen, für das Recht zu kämpfen, uns selber politisch zu bilden – und manchmal heißt das, dass wir die Theorien des Marxismus-Leninismus studieren wollen – dann wissen wir, dass Rockefeller einen militärischen Angriff auf uns loslassen kann, der dem Anschlag auf unsere Schwestern und Brüder in Südafrika gleichkommt.

Wenn wir die Zeichen all dieses Irrsinns richtig deuten, wird uns klar, dass sie alle in eine Richtung weisen: in die Richtung zum Faschismus, Und der Faschismus, wenn wir ihm nicht Einhalt gebieten, kann uns schließlich in einen nie endenden Albtraum stürzen. Die Gefängnisse dieses Landes, die Soledads, die San Quentins, die Atticas, vermitteln uns eine schwache Ahnung von dem, um was es sich bei diesem faschistischen Albtraum handeln kann. Ein Gefängnis, das George Jackson töten musste, weil sein Geist nicht zu brechen war … und ein Gefängnissystem, das fortfährt, willensändernde Drogen gegen militante Häftlinge zu verwenden, sind bloß eine Vorwarnung dessen, was Faschismus uns allen bringen kann.

Da wir die Gefahr, die vor uns liegt, sehen können, muss uns auch klar sein, dass wir uns zu einer machtvollen Volksbewegung vereinen sollten, die in der Lage ist, diesen Moloch der Unterdrückung zum Rückzug zu zwingen. Und wir haben ja bereits erfahren, dass wir das schaffen können – denn, Schwestern und Brüder, stände ich sonst heute hier?

Dieser Sieg ist nur ein winziger Vorgeschmack

Die herrschenden Kreise erkennen nicht an, dass meine Freiheit auf den Straßen und Plätzen dieses Landes, ja der ganzen Welt errungen wurde. Alle wesentlichen Zeitungen des Landes kritisieren mich, weil ich dem Gerichtssystem nicht für den fairen Prozess danke. Vermutlich soll ich ihnen nicht nur für einen fairen Prozess danken, sondern auch für die sechzehn Monate, die ich im Gefängnis verbracht habe – und für die Hunderte von Jahren der Gefängnisstrafen, die meinem Volk noch immer auferlegt sind und werden. Erwarten sie wirklich, dass ich ein Gerichtssystem lobe, das George Jackson zehn Jahre seines Lebens raubte und ihn zuletzt umbrachte? Ein Gefängnissystem, das meinem Genossen Henry Winston das Augenlicht nahm? Glauben sie, dass ich je Walter Collins vergesse, der noch im Gefängnis sitzt, weil er sich weigerte, nach Vietnam zu gehen? Denken die Herrschenden tatsächlich, dass ich ihnen für ihre Rechtsprechung danke, solange aber Tausende unserer Schwestern und Brüder überall im Lande in Kerkern leiden und kämpfen?

Es ist Zeit, dass wir ihnen auf die entschiedenste Weise erklären, dass wir es schaffen, dass wir heute Abend hier nicht zusammengekommen sind, um die Fairness ihrer Gerichtshöfe zu loben. Wir müssen ihnen vielmehr laut und deutlich sagen, dass der Sieg, den wir feiern, nur ein winziger Vorgeschmack von dem ist, was sie von nun an erwarten können.

Wenn die Herrschenden meinen, dass all die Komitees, die sich hierzulande und in aller Welt gebildet haben, um meine Befreiung zu erlangen, nun wieder ihre Türen schließen, dann täuschen sie sich. Dann täuschen sie sich gründlich.

Und so, Schwestern und Brüder, lasst uns ihnen mit donnernder, laut widerhallender vereinter Stimme zurufen, dass wir den Kampf führen werden, bis jeder Rest von Rassismus in diesem Lande ausgemerzt ist, bis es uns gelungen ist, den Krieg in Vietnam und den Neokolonialismus in Afrika zu beenden. Wir werden in unserem Kampf nicht nachlassen, ehe jeder politische Gefangene frei ist und die ungeheuerlichen Kerker hierzulande nur noch Erinnerungen an einen Albtraum sind.

Darauf, Schwestern und Brüder, darauf zielt die Kraft des Volkes.“ Und damit zur ausführlicheren Vorstellung der anderen Angebote dieses Newsletters.

Am 13. Januar erscheint als Eigenproduktion der EDITION digital „Die frühe Katze fängt den Vogel, der den späten Wurm verschmäht“ von Guido Pauly: Der Autor Pauly hat den Wahnsinn, den die Medien öffentlich verbreiten, sowie skurrile Begegnungen und Erlebnisse zu kleinen humoristischen Texten verarbeitet: Zu politischen Satiren, Grotesken, witzigen Anekdoten. „Guido Pauly belauscht die Wirklichkeit, hört und sieht hin. Seine Pointen sind keine schnellen Schenkelklopfer, sondern haben doppelten Boden“, urteilte die „Westdeutsche Allgemeine Zeitung“ (WAZ). Hier folgen ein paar Beispiele für seine doppelbödigen Texte:

VIELE WEGE FÜHREN AUF DIE STRASSE

Ich nahm an der Demo gegen verkaufsoffene Sonntage teil, zu der Gewerkschaften und Kirchen aufgerufen hatten. Strammen Schrittes und mit aufrechtem Gang marschierte ich in vorderster Reihe und stimmte lautstark in die Protestrufe mit ein.
Um ehrlich zu sein, ich ging nicht der Arbeiterrechte und erst recht nicht des 3. Gebots wegen mit, sondern im eigenen Interesse: Ich habe auch sonntags kein Geld zum Shoppen.

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Nachdem St. Martin beim diesjährigen Umzug in Duisburg-Marxloh herabstiegen war, um seinen Mantel mit dem „armen Mann“ zu teilen, staunte er nicht schlecht, als er wieder aufsitzen wollte: Sein Pferd war gestohlen worden.

VON WEGEN

Ich dachte, Kalle sei der Doofste meiner Kegelbrüder. Beim traditionellen Spanferkel-Essen belehrte er mich eines Besseren. Als der Wirt zu unserem Tisch kam und sagte, dass wir uns noch ein wenig in Geduld üben müssten, die Küche käme nicht hinterher, rief Kalle: „Der Worte sind genug gewechselt. Lasst mich auch endlich Schwarten sehen!“

ALTES EHEPAAR

Sie: „Du musst immer das letzte Wort haben!“

Er:

Sie: „Immer musst du das letzte Wort haben!“

Er:

Sie: „Warum musst du immer das letzte Wort haben?“

Er:

Sie: „Antworte mir! Oder bist du taub?“

Er: „Nein!“

PHILOSOPHISCHES

Kraft seines freien Willens erkennt der Mensch, dass sein Leben determiniert ist.

AUCH DANN

Geld macht nicht glücklich!

Ich war auch unglücklich, als ich noch welches hatte.“

Anfang Februar erscheint eine weitere Eigenproduktion (Buch und E-Book) der EDITION digital – „Mein Besuch bei den Ahnen. Fast 200 Jahre Familiengeschichte(n) aus Sachsen, Böhmen/Mähren, Niederschlesien und Bayern“ von Werner Müller: Beim Ordnen des über Jahre angesammelten Nachlasses aus den Familien des Autors und der seiner Frau konnten viele sich dabei ergebende Fragen nicht oder nur unvollständig beantwortet werden. Als Rentner über den erforderlichen Zeitfonds verfügend, ging Werner Müller deshalb daran, die Lücken durch Befragung noch lebender Zeitzeugen, durch Recherchen in Büchern, Archiven des In- und Auslandes und im Internet zu schließen. Dabei fand er neben den üblichen Lebensdaten zahlreiche interessante, spannende, dramatische Geschichten von und über die Vorfahren, über ihr Leben zwischen Geburt und Tod, über die „Verhältnisse“, die sehr oft einfach nicht so waren, wie sie hätten sein sollen, für Brot und Wein, für ein Leben in Frieden und Zufriedenheit. Die Verknüpfung der Schicksale einfacher Menschen mit den geschichtlichen Ereignissen ihrer Zeit ermöglicht dem interessierten Leser eine Erweiterung seines Geschichtsbewusstseins in unserer schnelllebigen Gegenwart. Einen ersten Eindruck dieser Publikation vermitteln der Prolog und der Anfang des 1. Kapitels:

Prolog

Vor nun schon mehreren Jahren, an einem grauen Wintertag, blätterte ich, Werner Müller, geboren 1948, gemeinsam mit meiner Frau Brigitte, Jahrgang 1949, wieder einmal in alten Fotos und Papieren aus den Nachlässen unserer Familien. Dabei stellten wir erneut fest, dass uns die auf nicht wenigen altertümlichen, teils recht vergilbten Fotos abgebildeten Menschen oft gänzlich unbekannt waren. Dazu fiel mir noch ein Vers aus der Novelle „Aquis submersus“ Theodor Storms ein:

„Gleich so wie Rauch und Staub verschwind,

also sind auch die Menschenkind“.

Sollte das so bleiben? Die da zu sehen waren und von denen geschrieben stand, das waren ja unsere Vorfahren. Das waren Menschen, die nach den Erkenntnissen der Naturwissenschaft, der Erbbiologie, bewusst oder unbewusst zu einem Stück in uns weiterleben. Durch sie sind wir im Heute mit dem Gestern untrennbar verbunden. Eines Tages dann werden wir selbst Vorfahren geworden sein, wie der Schriftsteller Erich Kästner so schön schreibt. Sollten wir uns vielleicht einmal darauf besinnen, dass wir nicht einsam und allein im Ozean der Zeit schwimmen, sondern jeder das Glied einer unzerreißbaren Kette ist, sogar noch nach dem Tod. Sollten wir vielleicht einmal über Zusammenhänge zwischen dem Gestern und dem Heute nachdenken?

Sicher, das ist besonders für junge Leute nicht so einfach zu verstehen. Die Theologin Margot Käßmann, ehemalige Bischöfin und zeitkritische Autorin nicht weniger Bücher, meint, dass wir in jungen Jahren ständig vorwärts leben und versuchen, die vor uns liegenden Herausforderungen zu bewältigen. Erst später, älter geworden, nehmen wir uns die Zeit um einzuordnen, was wir und andere erlebt haben, suchen Zusammenhänge – in der zweiten Hälfte des Lebens.

Da aber ist es oft schon zu spät, um Zeitzeugen, beispielsweise Großeltern, zu befragen. Ich habe das schmerzhaft wahrnehmen müssen. Denn beim Sammeln der Lebensdaten der Vorfahren ergaben sich immer wieder Fragen, die nicht so einfach zu beantworten waren. Doch dazu später.

Mit 65 Jahren hatte ich mit tatkräftiger Hilfe meiner Frau Brigitte schon eine Ahnentafel für unsere Kinder angefertigt. Da waren sie schön aufgereiht – Eltern, Großeltern, Urgroßeltern. Auch die nächste Generation hatten wir manchmal gefunden, aber dafür war das verwendete Formular zu klein. Es reichte nur für Berufe, Geburts-, Todes- und Hochzeitsdaten.

Dazwischen gab es jedoch zahlreiche interessante, spannende, dramatische Geschichten von und über die Vorfahren, über ihr Leben zwischen Geburt und Tod, über die „Verhältnisse“, die sehr oft einfach nicht so waren, wie sie hätten sein sollen, für Brot und Wein, für ein Leben in Frieden und Zufriedenheit. Verhältnisse, die sie trotzdem überstanden, ja auch meisterten.

Davon wollen wir für die Generation unserer Kinder und vielleicht auch die der nächsten Generation, die der Enkel, ein wenig erzählen. Wie und was waren sie, die Vorfahren?

Bevor wir mit unserem Bericht beginnen, noch ein Hinweis: Erzählt wird im Folgenden von den Vorfahren aus unserer Sicht bzw. der unserer Generation, also der jetzt etwa 70-Jährigen. Da sind unsere Eltern die Großeltern unserer Kinder, unsere Großeltern die Urgroßeltern der Kinder und so fort. Dabei langten wir schließlich bei unseren Urgroßeltern an. Das sind immerhin acht Frauen und acht Männer, über die zu berichten ist. Manchmal, wenn das möglich und sinnvoll war, sind wir noch einen Schritt weiter gegangen, zur nächsten Generation, zu den Ur-ur-Großeltern. Beendet haben wir die Suche im Geäst des Familienstammbaumes dort, wo nur noch einzelne Namen zu finden waren.

Schließlich, nach Fertigstellung des Manuskriptes, sind wir zu dem Schluss gekommen, dass das von uns Gefundene auch für andere Familien interessant sein könnte. Vielleicht finden Leser Parallelen zu Lebensläufen oder erhalten Anregungen für eigene Recherchen.

Kapitel 1 – Zeit der Urgroßeltern

Diese Vorfahrengeneration, laut Ahnentafel mit jeweils acht Uromas (Urgroßmüttern) und Uropas (Urgroßvätern), lebte etwa zwischen etwa 1850 und 1950 in ganz verschiedenen Regionen bzw. Staatsgebilden. In diesem Zeitraum gab es in Mitteleuropa tiefgreifende Veränderungen, denen auch diese Menschen unterworfen waren.

So fanden sich zunächst in der Donaumonarchie Österreich-Ungarn lebende Männer und Frauen nach dem 1. Weltkrieg im neu geschaffenen Staatengebilde Tschechoslowakei wieder. Das waren die ab 1918 meistens „Sudetendeutsche“ genannten Deutschmährer und Deutschböhmen.

Andere der Vorfahren stammten aus der damaligen Provinz Niederschlesien des Königreichs Preußen oder aus dem Königreich Bayern, die beide 1918 zu Freistaaten wurden und damit auch Gliederstaaten der föderativen Weimarer Republik. Zu dieser gehörte neben anderen noch das vormalige, von Napoleons Gnaden als Königreich erhobene Kurfürstentum Sachsen, ebenfalls ab 1918 ein Freistaat und Heimat von einigen der Vorfahren.

Das mag zunächst etwas verwirrend sein, ist aber für das Verständnis der folgenden Geschichten nicht zu umgehen.

Ein Vielvölkerstaat zerbricht

Donaumonarchie, Sudetenland und Tschechoslowakei

Die Geschichte der Donaumonarchie ist kompliziert und vielfältig. Ich aber bin ja kein Geschichtslehrer und will meine Leser nicht damit langweilen. Vielleicht nur so viel, dass dieser Vielvölkerstaat nach Ende des Ersten Weltkrieges zerbrach oder zerbrochen wurde und aus ihm verschiedene neue Staaten entstanden. Dazu gehörten Deutsch-Österreich und die Tschechoslowakei. Letztere war wieder ein Vielvölkerstaat, der sich aber unter Führung tschechischer Politiker wie Masaryk und Benes eindeutig national-tschechisch ausrichtete. Sie wurden dabei von den Siegemächten des Krieges unterstützt, vor allem von Frankreich. Die Slowakei löste man mit Gewalt aus dem Mutterland Ungarn heraus.

Die vor allem im gesamten Grenzgebiet Böhmens und Mährens sowie in einigen Sprachinseln lebenden Sudetendeutschen oder auch Deutschösterreicher fragte niemand. Verschiedene Versuche zu einer Volksabstimmung über ihren Verbleib in dem neuen Österreich wurden unterdrückt. Es gab auch Tote.

Die Tschechoslowakei hatte Anfang der 1920er Jahre knapp 14 Millionen Einwohner. Rund sieben Millionen gehörten aus ethnischer Sicht zu den Tschechen, 2 Millionen zu den Slowaken und über 3 Millionen zu den Deutschen. In der 1920 verabschiedeten Verfassung war die Rede von einer tschechoslowakischen Nation und einer tschechoslowakischen Sprache – beides Erfindungen, die dafür sorgten, dass sich die Slowaken als Staatsvolk betrachten konnten, die zahlenmäßig stärkeren Deutschen jedoch als nationale Minderheit galten. Theoretisch waren Tschechen und Slowaken in der neuen Republik gleichgestellt, doch ohne Zweifel dominierten die Tschechen in allen Bereichen. Und dies blieb nicht ohne Folgen.

Selbst die Spaltung der Tschechoslowakei 1992 in zwei selbstständige Republiken ist mit darauf zurückzuführen.

Auch die von den Siegermächten des Ersten Weltkriegs vorgenommenen Grenzziehungen in den Gebieten des ehemaligen osmanischen Reiches und damit die Schaffung weiterer neuer Staaten nach 1918 hatten weitreichende politische Folgen. Diese trugen maßgeblich zur Entstehung von Konflikten bei, die diese Region bis heute erschüttern.

Die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Afrika von den Kolonialmächten willkürlich gezogenen Grenzen haben verheerende Auswirkungen bis heute. Ethnische und historische Gegebenheiten fanden dabei nicht die erforderliche Beachtung. So wurden Familien getrennt, Feinde vereint und Handelsrouten unterbrochen.

Und das ehemalige Jugoslawien? Und die nun glücklicherweise nach 40 Jahren gewaltsamer Trennung wieder vereinten zwei Teile Deutschlands?

 

Der Handschuhmacher und die Musikerin

Handschuhmacher Josef Höllmann (1867 – um 1940) und Musikerin Rosa Bärtl (1870 – 1955)

Jetzt schauen wir zurück ins frühere Sudetenland.

Von Vysluni (ehemals Sonnenberg) im heutigen Tschechien kommend, wurde in Kadan (ehemals Kaaden) der Handschuhmacher Josef Höllmann mit seiner Frau Rosa sesshaft.

Es war nicht einfach, Näheres über die Vergangenheit dieses Familienzweiges zu erfahren. Zeitzeugen konnten nicht mehr gefragt werden. Dokumente aus Nachlässen, Recherchen bei verschiedenen Standesämtern und in Archiven der Tschechischen Republik haben dann noch einiges zutage gebracht.

Josefs Vater war Fleischer, Rosa stammte aus der Sonnenberger Musikerfamilie Bärtl. Die zog, immer auf Suche nach Beschäftigung, durch die Lande, und so fand ich in Rosas Geburtsurkunde als Geburtsort Varna (Bulgarien) eingetragen.

Geheiratet wurde 1894 in Kaaden. Kinder aus dieser Familie waren Josef, Emil, Elvira und Albina, eine spätere Oma Brigittes.

Die Handschuherzeugung war in alter Zeit kein eigenes Gewerbe. Handschuhe aus Leder erzeugten früher die Beutler, die eben Beutel aus Leder machten, aber auch Lederhosen, Säbeltaschen, Ranzen und Handschuhe.

Im 19. Jahrhundert hatte das Handwerk seine Blütezeit. Der größte Teil der Handschuhe wurde damals in Heimarbeit hergestellt. Das war auch bei den Höllmanns so, wie sich Brigittes Vater Willi später an seinen Großvater erinnerte.

Dabei war meistens die ganze Familie beschäftigt: Der Mann am Wirkstuhl, die Frau an der Nähmaschine, ungeübte Kräfte und Kinder jeden Alters, auch schon sehr kleine Kinder, werkten am Spulrad oder bei verschiedenen Hilfsarbeiten.

Der für die Produktion benötigte Wirkstuhl wurde dem Handschuhmacher von einem Unternehmer gegen Entgelt zur Verfügung gestellt. Dieser nahm ihm nicht nur die Ware gegen einen bestimmten Preis ab, sondern versorgte ihn auch mit Garn, Seide und anderen Dingen, die er zur Herstellung der Handschuhe benötigte.

An einem Tag soll ein geübter Handschuhmacher 12 Paar Handschuhe hergestellt haben. Der Lohn dafür war bescheiden. Außerdem musste der Heimarbeiter in der Regel neben dem Stuhlzins auch noch die Auslagen für den Bruch von Nadeln und Platinen bestreiten.

Zwischen 1914 und 1915 gehörten der Handschuhmachergenossenschaft in Kaaden 31 Fabrikanten an, bei denen über 240 Gehilfen, Zurichter, Färber und Dresseure und ca. 800 Näherinnen beschäftigt waren. Im Jahr 1914 wurden ungefähr 630 000 Stück Leder zu 1 200 000 Paar Handschuhen verarbeitet.

Die Zahl der Handschuhmachergehilfen und der Näherinnen war in der Bevölkerung Kaadens beachtlich. Josefs Sohn Emil war selbst Handschuhmacher, seine Tochter Gretel als Handschuhnäherin tätig.

Eine Bergmannsfamilie mit 12 Kindern

Bergmann Wilhelm Teubner sen.(1869 – 1950) und Franziska Schiega (1873 – um 1935)

Eine zweite sudetendeutsche Familie fand ich in der heutigen Tschechischen Republik in Pritkov (damals Jüdendorf). Das ist gar nicht weit von Teplice (damals Teplitz) entfernt, nahe der böhmisch-sächsischen Grenze.

Dort lebte der aus Chotyne (damals Ketten) bei Liberec (damals Reichenberg) stammende Wilhelm Teubner sen. mit seiner in Rybinany (damals Ribnian) geborenen Frau Franziska, die er um 1890 heiratete.

Die beiden hatten 12 Kinder, 4 Mädchen und 8 Jungen. Der Älteste war Wilhelm Franz, einer der späteren Opas oder Großväter von Brigitte. Er wurde als erster Sohn traditionsgemäß nach seinem Vater genannt. Das war in der Familie vorher so und auch später bis hin zu den Eltern.

Bei den Nachforschungen zu unserer Familiengeschichte halfen hier sogar tschechische Archive. Als Glücksumstand erwies sich außerdem, dass ich in Zwickau den Sohn des Mannes finden konnte, der Opa Wilhelms Schwester Anna geheiratet hatte. Er gab mir zur Geschichte der Familie Teubner wertvolle Hinweise. Doch davon später mehr.

Vater Wilhelm wird in alten Akten als Kesselheizer und später Oberhauer im damaligen Braunkohlenbergbau in dieser Region genannt. Zum Oberhauer konnte man nach langjähriger erfolgreicher Berufserfahrung befördert werden und fungierte damit als Vorarbeiter.

Da ja Teplitz nicht weit von meiner Heimatstadt Pirna entfernt ist, bin ich mit Brigitte und unseren zwei Kindern in den 1970er und 1980er Jahren manches Mal im sogenannten kleinen Grenzverkehr dort gewesen. Von Bergbau hatten wir nichts bemerkt. Doch eine Internetrecherche belehrte mich eines Besseren. Demnach begann in der Mitte des 19. Jahrhunderts der Abbau von Hartbraunkohle in den reichen Braunkohlenlagern der Umgebung der Stadt in größerem Stil. Teplitz entwickelte sich dadurch zu einem bedeutenden Industrie- und Handelsplatz.

Der Abbau von Braunkohle erfolgte damals in den meisten Revieren im Tiefbau. Erst mit zunehmender Mechanisierung verschob sich das Gewicht der Gewinnung zum Tagebau. In der Nähe von Most, ebenfalls im Nordböhmischen Becken gelegen, wurde noch bis 1991 Braunkohlentiefbau betrieben.

Die Arbeit im Braunkohlenbergbau war schwer und oft gefährlich. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen sicherten meistens nur das Überleben der Familien. Früher Tod der Bergleute war keine Seltenheit, genauso wie Kinderarbeit.

Ein Foto der Familie mit 12 Kindern, aufgenommen 1923 zur Hochzeit der Tochter Anna, zeigt einen Teil der Kinder barfuß und in ärmlicher Kleidung. Die Mutter Franziska ist 50 Jahre alt, der Vater Wilhelm 54. Vorn rechts fällt ein gut gekleideter junger Mann auf. Das ist Wilhelm Teubner jun. mit 30 Jahren. Er hatte Elektriker gelernt und zu diesem Zeitpunkt schon sieben Jahre erfolgreich im Elektrizitätswerk von Kaden gearbeitet.“

Erstmals 2013 war ebenfalls als Eigenproduktion (Buch und E-Book) der EDITION digital von Ulrich HinseDas Jakobsweg-Komplott“ erschienen: Mysteriöse Morde lassen die Pilger auf dem Jakobsweg von den Pyrenäen bis Santiago de Compostela erschaudern. Zufällig wurde einer der Pilger, der deutsche Kriminalhauptkommissar Raschke aus Mecklenburg-Vorpommern, Zeuge einer Tat. Zunächst scheint die Begegnung zufällig. Dann jedoch beginnt eine Mordserie, die parallel zur Pilgerwanderung des Polizisten geschieht. Auch auf Raschke, der offenbar als lästiger Zeuge beseitigt werden soll, werden Anschläge verübt. Für die spanische Polizei wird der Deutsche zum Lockvogel, der sie zu den Tätern führen soll. Schon bald zeichnet sich ab, dass es bei den Morden um das verschwundene Gold der Templer geht und die Jagd nach dem Killer erst in Santiago de Compostela zu Ende sein könnte. Gelingt der spanischen Polizei rechtzeitig die Entlarvung der Täter und Hintermänner oder schaffen es die einfallsreichen Mörder, den deutschen Pilger aus dem Weg zu räumen? Ein spannender Krimi über den Jakobsweg und das Mysterium des Templerschatzes. Hier ein Auszug, in dem der deutsche Kriminalist, der eigentlich nur pilgern und seinen Gedanken über Gott und die Welt nachhängten wollte, wieder einmal in Schwierigkeiten kommt. Hatte es doch jemand gezielt auf ihn abgesehen? Und was bedeutete wohl der mysteriöse Abschiedsgruß eines anderen Pilgers?

„In Puente la Reina dort, wo der französische Weg sich mit dem aragonischen vereinigte, traf er wieder auf Pilger. Wie Ameisen kamen sie den Weg von Obanos herunter und marschierten hintereinander durch die sirga peregrinal, die Pilgerstraße, über die berühmte Brücke über den Rio Arga. An einem kleinen Supermercado, der trotz der mittäglichen Siesta geöffnet hatte, scherte Raschke aus, um sich ein paar Bananen als Marschverpflegung zu kaufen.

„Kennen wir uns nicht?“

Überrascht blickte sich Raschke um. Ein etwa gleichaltriger, drahtiger Pilger mit leichtem Gepäck stand hinter ihm. Raschke musterte ihn. Dann schüttelte er mit dem Kopf.

„Tut mir leid. Ich wüsste nicht woher.“

„Kommst du nicht aus Oppenheim?“

„Nein. Oppenheim kenne ich nur in Verbindung mit Wein. Ich komme aus Meck-Pomm.“

„Mmh, ich hätte schwören können, dich schon einmal gesehen zu haben. Gehen wir ein Stück gemeinsam? Ich will heute noch bis nach Estella.“

„Oh, das sind ja noch zwanzig Kilometer. So weit wollte ich nicht mehr. Außerdem kann ich mir vorstellen, dass du nicht so langsam gehst wie ich.“

„Na, dann nicht“, antwortete der verhinderte Pilgerfreund sichtlich enttäuscht, wünschte noch einen guten Weg und vor allem ein gesundes Ankommen. Dann verschwand er leichtfüßig in einem Hohlweg auf der anderen Seite des Flusses.

Auf der Brücke blieb Raschke noch einmal stehen und starrte auf das noch immer schmutziggelbe Wasser. Warum hatte ihm der Fremde ein gutes Ankommen gewünscht? Sollte das einen besonderen Grund haben? Er schüttelte den Gedanken wieder ab. Jetzt fing er an zu spinnen und bei allem und jedem einen Hintergrund zu vermuten.

„Reiß dich zusammen, Raschke. Du bist im Urlaub“, murmelte er und setzte seinen Weg fort. Gleichwohl war er nicht richtig bei der Sache. Eigentlich hatte er entlang der alten Nationalstraße nach Maneru laufen wollen, aber er lief auf dem Camino weiter, vor dem alle gewarnt hatten. Seinen Fehler bemerkte er erst, als er nach mehr als vier Kilometern vor dem steilen, aus glitschigem Lehm bestehenden Anstieg stand. Die Landarbeiter, die auf dem benachbarten Feld gerade Spargel stachen, schauten verwundert zu ihm herüber, als er sich anschickte, den Hang hinaufzusteigen, weil er zu faul war, die vier Kilometer wieder zurückzulaufen.

Gut dreihundert Meter über ihm war oben im Hang die Trasse der alten Nationalstraße zu erkennen, an der er eigentlich hatte entlang gehen wollen. Der Weg entpuppte sich tatsächlich als schmal und rutschig. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen. Bloß keinen Fehltritt riskieren. Rechts von ihm fiel der mit großen Felsbrocken und niedrigem Gebüsch durchsetzte Hang steil zu einem Bach ab, der sich tief eingegraben hatte und neben den Spargelfeldern in den Rio Arga mündete. Links ging es ebenso steil in die Höhe. Das Gepäck drückte. Er war froh, zwei Wanderstöcke zu haben, auf die er sich stützen konnte, das gab zumindest ein wenig Halt und Sicherheit. Ausgerechnet jetzt war die Sonne durch die Wolken gekommen. Genau im falschen Moment.

„Die hätte auch noch eine Stunde warten können nach vier Wochen Abstinenz“, mäkelte er halblaut vor sich hin. Tröstlich erschien, dass vor ihm doch wohl noch andere den Weg gegangen waren. Die Abdrücke der Stiefel und die tiefen Einstiche der Wanderstöcke in dem roten, weichen Lehm waren deutlich zu erkennen. Raschke schnaufte wie eine alte Dampflok. Der Schweiß lief ihm in Strömen von der Stirn unter die Brille. Er sah nichts mehr. Er blieb stehen, um seine Brille sicher zu verstauen und sich die brennenden Augen auszuwischen. Wie hoch musste er eigentlich noch hinauf? Er blickte Hilfe suchend den Hang empor und ein Adrenalinstoß schoss durch seinen Körper. Von oben rollten und hüpften mehrere Betonröhren auf ihn zu, die sich aus einem Stapel an der Böschung unterhalb der Nationalstraße gelöst hatten. Unfähig, sich zu bewegen, starrte er den immer schneller werdenden Röhren entgegen. Noch zwanzig Meter und seine Pilgerwanderung hatte hier an einem Hang unterhalb des Dorfes Maneru in Navarra sein Ende genommen. Wer würde seiner Frau und den Kindern die traurige Nachricht überbringen? Vielleicht würde man ja ihm zu Ehren ein Kreuz aufrichten, um vorbeiziehende Pilger später an seinen Unfalltod zu erinnern.

„Santiago hilf“, war alles, was er stammeln konnte.

In diesem Moment krachte die erste Röhre nach einem großen Hüpfer auf einen vom Regen ausgewaschenen Felsbrocken, drehte sich und rutschte hässlich knirschend alles unter sich zermahlend etwa drei bis vier Meter an Raschke vorbei hinunter in die Bachsenke. Die zweite Röhre wurde von dem gleichen Brocken gestoppt. Sie zerbrach, als sie von den folgenden Röhren getroffen wurde. Sirrend pfiffen Trümmerstücke durch die Luft. Einige kleine Betonsplitter trafen seine Jacke. Er starrte den langsam den Hang hinabrutschenden Röhren nach. Dann war es still. Tränen standen ihm in den Augen. Er spürte einen dicken Kloß in seinem Hals. Die Kehle war staubtrocken. Langsam nahm er seinen Rucksack ab und setzte sich auf den feuchten Hang. Seine Knie zitterten. Er konnte so nicht weitergehen. Musste sich erst sammeln, um den Schreck zu überwinden. Während er saß und die letzten Reste aus der Wasserflasche trank, blickte er vorsichtig nach oben. So, als hätte er Angst, dort die Ursache für die rollenden Röhren zu sehen. Aber er war zu weit unterhalb der Straße, um etwas sehen zu können. Fast eine halbe Stunde blieb er sitzen, dann riss er sich zusammen, um den Hügel weiter hinaufzusteigen.

War das ein Unfall? War das gezielt gegen ihn gerichtet? Wenn ja, wer konnte das gewesen sein? Hatte der merkwürdige Pilger in Puente la Reina etwas damit zu tun, dem er so bekannt vorgekommen war und der ihm ungewöhnlich ahnungsvoll ein gutes Ankommen gewünscht hatte? Oder steckte gar der Mörder von Pamplona dahinter, der sich auf diese Weise des Zeugen entledigen wollte? Er nahm sich vor, Lopez Castela von dem Vorfall zu unterrichten. Vielleicht war ja festzustellen, ob sich die Röhren von alleine gelöst oder ob jemand nachgeholfen hatte.

Endlich hatte er die Hügelkuppe erreicht. Vor ihm lag friedlich im Sonnenschein das Dörfchen Maneru. Heute wollte er nicht mehr weiterwandern. Obwohl im Wanderführer für Maneru keine Herberge und kein Privatquartier verzeichnet war, gab es doch eine Unterkunft. Casa rural Isabel stand auf einem Schild neben dem Camino am Ortseingang.

Eine junge Frau hielt erschreckt ihren Wagen an, als Raschke ihr unvermittelt vor den Kühler sprang.

„Perdone, senora, donde este la Casa rural, por favor – wo finde ich die Casa rural, bitte?”

Sie zeigte auf eine schmale Gasse, die hinter den ersten Häusern des Dorfes zu erkennen war.

„Veinti metros en el calle isquierda y enfrente – Zwanzig Meter links in die Gasse und dann laufen Sie direkt drauf zu“, war die freundliche Antwort.

Mit schleppendem Schritt ging Raschke durch die genannte Gasse. Und tatsächlich, da war sie. Ein schönes, frisch renoviertes Sandsteinhaus im navarrischen Stil mit Brunnen, Garten, schattigem Patio lag vor ihm. Wie ein kleines Paradies. Pure Gemütlichkeit und versprechende Erholung. Santiago hatte tatsächlich geholfen.

Das Knirschen der Eisenräder des Schiebetors rief die Hausherrin auf den Plan. Sie schaute aus dem ersten Stock interessiert auf den Pilger, der unten im Garten stand.

„Hola, senora Isabel. Hay usted un habitation individual para un cansare peregrino? – Haben Sie ein Einzelzimmer für einen müden Pilger?“

„Si senor, entrada.“

Die freundliche Antwort ließ Raschke hoffen. Nach wenigen Momenten öffnete die sympathische Spanierin die Tür und führte ihn durch eine große Wohnküche in ein dahinter liegendes geräumiges Zimmer. Noch während er sich mühsam seines Gepäcks entledigte, entwickelte die Wirtin hektische Aktivitäten. Es wurde das Bett frisch bezogen und ohne zu fragen das Badewasser in die Wanne gelassen. Während Raschke sich in dem warmen Wasser entspannte, hatte sie schon seine durchgeschwitzten Hemden, Hosen und Socken in die Waschmaschine gesteckt und ein Pilgermenü mit Zwiebelsuppe, Brot, Wasser, Wein, gebratenem Schinken und einem großen ensalada mixta, frisch aus dem Garten, angerichtet. Während des Essens redete Donna Isabel ununterbrochen auf ihren Gast ein. Der wurde mit seinen spärlichen Spanischkenntnissen richtig gefordert. Die Wirtin war begeistert, endlich einen Gast zu haben, den sie verwöhnen konnte. Und Raschke war begeistert, so unvermutet verwöhnt zu werden. Nach dem Essen zog Raschke sich mit einer Flasche Wein in den Garten zurück. Jetzt fand er Gelegenheit, Lopez Castela anzurufen. Der spanische Beamte kannte das Quartier und beglückwünschte den Deutschen zu seiner guten Wahl. Donna Isabel sei eine ganz bekannte Köchin, die ihr Handwerk von der Mutter gelernt habe, die als Wirtschafterin lange Zeit für einen spanischen Adeligen in Puente la Reina gearbeitet habe.

Nachdem Raschke sein Erlebnis mit den Betonröhren losgeworden war, bat ihn der Spanier bis zum nächsten Abend zu warten. Er werde nach Maneru kommen.

Der deutsche Kriminalbeamte genoss den Abend. Die hohen Feldsteinmauern in dem Garten schützten vor dem kalten Wind, der seit Wochen Spaniens Norden ein Norwegengefühl vermittelte. Er blinzelte in die Sonne, schrieb seiner Frau die abendliche SMS, lauschte begeistert dem Schlagen der Nachtigallen und schlürfte genüsslich den bereitgestellten Wein. Als es dunkel wurde, zog er sich auf sein Zimmer zurück und schlief zehn Stunden.“

Allerdings ist damit noch nicht alles vorbei. Noch weiß Raschke nicht, ob es wirklich ein Mordanschlag war, welche (bösen) Überraschungen ihn noch erwarten sollten und was das nun alles mit dem Gold der Templer zu tun hat. Und wenn Sie das Buch auch auf Englisch lesen wollen, ab Anfang Februar haben sie dazu Gelegenheit. Dann erscheint, wie bereits weiter oben angekündigt, „The Way of St. James Conspiracy“. Und vielleicht gibt es bald auch noch eine spanische Fassung? Wer weiß?

Spannende Lektüre versprechen aber auch die anderen Angebote dieses Newsletters, darunter die doppelbödigen Kommentare von Guido Pauly zum Zeitgeschehen, der unter anderem als ständiger Mitarbeiter der Satirezeitschrift „Eulenspiegel“ sein Geld verdient, und die Ergebnisse der familiengeschichtlichen Forschungen von Werner und Brigitte Müller, die rund zweihundert Jahre zurückblicken und viele Entdeckungen machen und auf diese Art ihre Vorfahren und Vorvorfahren wieder lebendig werden lassen.

Viel Vergnügen beim Lesen und Vergleichen mit der eigenen Lebensgeschichte, einen schönen Januar und bis demnächst.

Über die EDITION digital Pekrul & Sohn GbR

EDITION digital, seit kurzem Co-Verlag der Salem Edition, wurde vor nunmehr 25 Jahren ursprünglich als Verlag für elektronische Publikationen gegründet. Inzwischen gibt der Verlag Krimis, historische Romane, Fantasy, Zeitzeugenberichte und Sachbücher (NVA-, DDR-Geschichte) sowie Kinderbücher gedruckt und als E-Book heraus. Ein weiterer Schwerpunkt sind Grafiken und Beschreibungen von historischen Handwerks- und Berufszeichen sowie Belletristik und Sachbücher über Mecklenburg-Vorpommern. Bücher ehemaliger DDR-Autoren werden als E-Book neu aufgelegt. Insgesamt umfasst das Verlagsangebot, das unter www.edition-digital.de nachzulesen ist, derzeit fast 1.000 Titel (Stand Januar 2020). Alle Bücher werden klimaneutral gedruckt.

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