Von einem ebenso ungewöhnlichen wie existenziellen Zweikampf während der faschistischen Besetzung Norwegens erzählt Jan Flieger in „Der Tod kam in der Mittsommernacht“.
Um das Ende eines gesellschaftlichen Experiments und den damit verbundenen Untergang eines gesamten Landes geht es in „Fliegenragwurz“ von Stefan Eikermann.
Im bereits dritten Band der schönsten Sagen und Geschichten um den Schweriner Schlossgeist „Petermännchen will König werden“ befassen sich Erika und Jürgen Borchardt mit seltsamen Geschichten um seine Erlösung. Ob es wohl klappt, mit dem Königwerden? Und damit zum ersten der beiden Bücher von Siegfried Maaß.
Erstmals 1984 erschien im Verlag Neues Leben Berlin „Keine Flügel für Reggi“ von Siegfried Maaß: Ein junger Lehrer verursacht einen Motorradunfall und ist danach querschnittgelähmt. Ein einziger Augenblick der Unachtsamkeit hat ihn aus der Bahn geworfen, buchstäblich wie auch folglich. Mit seinem Überleben weiß er zunächst nichts anzufangen. Für seinen Beruf ist er nicht mehr tauglich. Was nun? Sein Mädchen hat sich getrennt, ihn im Stich gelassen, wie er es bezeichnet, als er sie am nötigsten gebraucht hätte. Welchen Sinn hat sein Leben noch? Flügel hab ich leider nicht, ist seine bittere Erkenntnis, hinter der sich sein Mangel an Lebensmut verbirgt. In lange währender Abwehrhaltung beginnt er während der Rehabilitation eine neue Ausbildung, die er mit der Unterstützung hilfreicher und verständnisvoller Menschen seines neuen Umfeldes abschließt. Sich an den Gedanken zu gewöhnen, die Stätte seiner Rehabilitation eines Tages aufgeben und sich in die Öffentlichkeit begeben zu müssen, fällt ihm schwer. Am Tag seiner Entlassung aus der Rehabilitation überdenkt er die Zeit seines Aufenthaltes in der „Burg“, die ein Schlupfwinkel für ihn gewesen ist, in dem er sich verkriechen und von der Außenwelt isolieren konnte. Nun muss er die Geborgenheit seines zweijährigen Aufenthaltes endgültig verlassen. Wie wird er „draußen“ zurechtkommen? Der Autor gestaltet den Lebensweg des jungen Mannes im Wechsel von Rückblende und gegenwärtigem Geschehen, so dass der Leser die leidvolle Geschichte des Protagonisten aus unterschiedlichen Perspektiven kennenlernen kann. Hier der Anfang dieses ebenso spannenden wie menschlich berührenden Buches:
„Morgen muss ich die „Burg“ verlassen. Morgen, das ist am Ende dieser letzten Nacht hier drinnen. Ich habe Angst davor. Was erwartet mich draußen?
Ich sollte längst im Bett sein, mich ausruhen, Kraft sammeln für das, was morgen beginnt. Aber ich bin ans Fenster gefahren, habe den Vorhang zur Seite gezogen und blicke auf den „Burghof“ hinunter, wo im Ententeich der Mond badet, und wo ich die Eingänge zu den Werkstätten erkennen kann. Im dicken, von Efeu überwucherten Mauerwerk der Hauswand wirken sie wie Schlupflöcher, in denen man sich verbergen kann.
Die Burg ist ein Schlupfwinkel für mich gewesen, zwei Jahre konnte ich mich hier verkriechen. Jetzt muss ich hinaus. Begebe ich mich in Gefahr?
Ich habe Angst, besonders vor Brückstedt, wo mir alles seit meiner Kindheit vertraut ist. Als Gesunder habe ich unsere Siedlung damals verlassen; als Krüppel kehre ich zurück. Was erwartet mich dort? Fremdheit? Mitleid?
Ich will kein Mitleid!
Eine gewisse Gabi macht sich in unserem Brückstedt ein schönes Leben; wenn ich die Augen schließe, sehe ich deutlich, was sie tut: Sie reitet. Fährt nicht mehr Motorrad wie einst mit mir, sondern reitet. So habe ich es im Traum erlebt, und so erscheint sie mir seitdem, wenn ich die Augen schließe. Oder sie tanzt. Wirbelt in einem weiten weißen Rock auf grünen Wiesen umher, läuft einem, der in engen Jeans steckt und kein Hemd trägt, direkt in die Arme. Die Köpfe ganz aneinander, flüstern dann beide: Armer Reggi, armer Reggi…
Ich reiße die Augen auf und möchte die Finger in die Ohren stopfen. Hört auf, will ich am liebsten rufen, hört auf mit eurem Mitleid.
Der Traum verfolgt mich überallhin.
Von mir, dem Krüppel, hat sie sich losgesagt, mich gibt es einfach nicht mehr, für sie bin ich so gut wie tot. Manchmal frage ich mich, warum ich damals nicht tatsächlich… Wie viel wäre mir dann erspart geblieben.
Ich will Gabi nicht wieder begegnen, würde sie mit meinem Rollstuhl einfach umfahren. Es sei denn, sie kommt wie in meinen Angstträumen wirklich auf einem Pferd. Oder sie flüchtet auf eine Treppe. Wahrscheinlich würde ich jedoch im letzten Augenblick davor zurückschrecken, weil ich zu feige bin. Wie ich zu feige war, mir etwas anzutun.
Unten im Saal feiern die anderen Abschied. Weil sich der Saal im Seitenflügel befindet und hell erleuchtet ist, kann ich von meinem Platz am Fenster die Schatten sehen; gespenstisch sieht es aus, was sie tanzen nennen. Die einen stelzen auf ihren Prothesen, andere drehen steif den ganzen Körper, weil sie ihre Wirbelsäule nicht verrenken dürfen. Aber sie stehen auf Füßen. Ich werde mein Leben lang im Rollstuhl sitzen. Leben… Ist es wert, so genannt zu werden, was mir geblieben ist?
Ich stoße die Tür zum Balkon auf. Die Schwelle ist längst entfernt worden, so dass ich mit meinem Rollstuhl ohne Schwierigkeit hinauskomme. Draußen werden jedoch Hunderte Schwellen sein, die meinen Weg versperren.
Die Nacht ist warm. Ich kenne solche Nächte; und wenn Gabi jetzt draußen ist oder am Fenster steht, müsste sie an unsere Sommernächte am Kiesschacht denken. Oder hat sie sich mit diesem Brief auch von ihren Erinnerungen losgesagt, sich selbst verstümmelt, indem sie einfach ein Stück aus sich herausriss, weil es ihr unbequem geworden war?
Lieber Reggi, es fällt mir nicht leicht, Dir diesen Brief zu schreiben, glaub mir bitte. In Gedanken hab ich ihn schon oft formuliert, aber erst heute kann ich mich aufraffen, Dir endlich zu sagen, was mich schon längere Zeit beschäftigt: Du und ich, Reggi, das geht nicht zusammen. Versteh mich. Ich habe mir selbst vorgetäuscht, Dich zu lieben, jetzt weiß ich es besser. Das hat mit Deinem Unfall nichts zu tun. Du bist stark, Reggi, und wirst es überstehen. Alles Gute für Dich. Gabi
Ich habe diesen Brief zerrissen. Dann wollte ich ihn wieder zusammensetzen und auf ein Stück Papier kleben, weil ich plötzlich glaubte, irgend etwas, ein Postskriptum vielleicht, übersehen zu haben. Aber die Schnipsel waren in alle Ecken, auf den Schrank und sonst wohin gesegelt, so dass ich sie nicht aufheben konnte. Als Frau Emmerich gekommen war, um aufzufegen, sah ich die Papierfetzen zu einem kleinen Haufen auf ihrem Kehrblech anwachsen. Sie blickte mich fragend an, aber weil ich schwieg, schüttete sie den Kehricht in einen Eimer. Ich wollte, sie hätte meine Erinnerungen ebenso zusammengescharrt und in den Müll geworfen.
Morgen muss ich die Burg verlassen, ich kehre heim zu meinem Vater. An ihn werde ich mich klammern wie einst, als ich ein kleiner Junge war, der Angst vorm schwarzen Mann und vor jedem Hund hatte.
Mein Vater hat in unserem Haus alles für mich geebnet. Er hatte damals, nachdem das Urteil der Ärzte verkündet war, an die Stadtverwaltung geschrieben:
Lieber Herr Bürgermeister, mein Sohn ist querschnittsgelähmt und muss im Rollstuhl fahren, er kommt über keine Schwelle. Ich beantrage darum, dass Sie einen Handwerker schicken, der die Schwellen herausreißt. Oder ich mache es selbst…
Bald darauf schickte der Bürgermeister einen Handwerker. Der Mann sah sich die Schwellen an, beklopfte die Türrahmen und wiegte seinen Kopf. Die Falte auf seiner Stirn zeigte seine Bedenken an. Das müsse er erst dem Meister zeigen, erklärte er meinem Vater, der mir später alles wiederholte und beschrieb. Am nächsten Tag kam der Mann wieder und ließ seinem Meister den Vortritt. Die könnten sie nicht herausreißen, meinte der Meister und wippte auf der Schwelle zwischen Küche und Wohnzimmer. Dann wäre kein Halt mehr für die Türrahmen da.
Das Bier, das mein Vater bereitgehalten hatte, trank er nun selbst. Dann holte er sein Stemmeisen aus dem Keller und brach eine Schwelle nach der anderen heraus, ohne dass das Haus zusammenfiel.
An einem Wochenende, als ich zum ersten Mal Urlaub von der Klinik hatte, konnte ich ungehindert in den unteren Zimmern umherfahren. Aber dorthin gehörte ich gar nicht, weil sich mein Zimmer in der oberen Etage befand und gleich daneben die Dachkammer, die ich ebenfalls für mich beanspruchte, um dort aufzubewahren, was eigentlich seinen Wert inzwischen verloren hatte, zum Beispiel die Boxhandschuhe.
Dort oben lag mein Reich. Ich war aus ihm verbannt,·und zwar für immer.
Noch einmal schrieb mein Vater an den Bürgermeister:
Die Schwellen sind nun raus, aber wir brauchen noch eine schiefe Ebene, damit mein Sohn selbständig zum Haus hereinkommt…
Nichts ist seitdem geschehen.
Ich weiß nicht, warum sich mein Vater damit zufriedengibt und lieber auf die Stadtverwaltung schimpft, als endlich etwas zu unternehmen. Glaubt er wirklich, mit Briefen könnte er unser Problem lösen? Er ist jetzt bei der Bahn beschäftigt, wo es einen Bautrupp gibt. Sollten ihm seine Kollegen wirklich nicht helfen wollen? Aber ich kenne meinen Vater genau; jemand um etwas zu bitten ist unter seiner Würde. Selbst die beiden Briefe an den Bürgermeister haben sein Ehrgefühl verletzt.
Früher, als meine Mutter noch lebte, mein Vater endlich seine Arbeit als Monteur aufgegeben hatte und immer pünktlich nach Hause kam, ging er selten noch einmal weg. Jetzt hockt er fast jeden Tag vom Nachmittag an in der Kneipe. Wenn ich von der Klinik für ein Wochenende beurlaubt war, spürte ich seinen Unmut, meinetwegen nicht zu seinem Stammtisch gehen zu können. Ich konnte mir nicht erlauben, ihn fortzuschicken, weil ich auf ihn angewiesen war. Darum war es am besten, wenn wir unseren Kummer gemeinsam hinunterschwemmten. Nach einer guten Stunde war uns dann jedes Mal wohler, und wir konnten wie früher ungezwungen miteinander reden.
Auch davor habe ich jetzt Angst. Ich kann auf seine Hilfe nicht völlig verzichten. Denn noch immer muss mich mein Vater zum Beispiel die fünf Stufen hinauftragen, wenn ich nach Hause komme. Oder der Nachbar ist erreichbar, dann heben sie mich gleich mit dem Rollstuhl hinauf. Morgen wird es nicht anders sein, übermorgen nicht und so weiter. Die Städte sind von Gesunden für Gesunde gemacht. Krüppel wie ich stehen nicht in ihren Plänen. Für mich gibt es die Burg, hier haben sich die Gesunden nach mir und den anderen Behinderten zu richten. Doch ab morgen… Wie werde ich draußen zurechtkommen?
Ich wollte gar nicht in die Burg, erkannte keinen Sinn darin, neu zu beginnen. Wozu noch einmal neu beginnen, wenn alles schon vorüber ist? dachte ich und muss es so ähnlich auch zu der Fürsorgerin gesagt haben, die mich zu Hause aufsuchte, nachdem ich die Klinik verlassen durfte.
Sie war noch jung und redete auf mich ein, als wäre ich den ersten Tag im Kindergarten. Ich hatte meinen Rollstuhl so weit wie möglich vom Tisch weggefahren, an dem die Frau und mein Vater saßen, und ich konnte genau beobachten, wann mein Vater ihren Worten mit einem Nicken zustimmte und wann nicht. Daran hielt ich mich. An seine Meinung habe ich mich immer gehalten, nicht erst, seit Mutter tot ist.
„Es gibt in Herbigsdorf“, sagte die Frau, „das werden Sie vielleicht kennen, ist ja nicht weit von Brückstedt entfernt, ein Rehabilitationszentrum, Sie können dort Uhrmacher werden.“
Mein Vater schwieg und hielt seinen Kopf still.
„Ich will nicht Uhrmacher werden“, erwiderte ich.
Die junge Frau spielte mit ihrem Kugelschreiber, den sie· mal auf die Spitze, mal auf den Drücker stellte.
„Ich weiß“, meinte sie. „Aber denken Sie doch mal ganz real, Herr Tischmeier. Sie wissen, wie Sie jetzt beschaffen sind. Und Sie brauchen wieder eine Aufgabe…“
Uhrmacher, dachte ich, hat doch keinen Sinn.“
Erstmals 1986 veröffentlichte Siegfried Maaß ebenfalls im Verlag Neues Leben Berlin „Abschied von der Lindenstraße“: Stuck, sagt Vera, es ist ja nur, weil ich dir etwas zu sagen habe. Darauf warte ich schon seit ner halben Stunde. Darauf nicht. Ich bin schwanger, Stuck, das ist es. Mit diesem neuen Konflikt nehmen die Lebensgeschichten der jungen Leute Vera und Stuck aus dem Buch „Lindenstraße 28“ ihren weiteren Verlauf. Stuck ist aus der Armee entlassen und hat Pläne für die Zukunft. Natürlich gemeinsam mit Vera. Er hofft, dass sie ihre Unbeständigkeit überwindet und nie wieder Kontakt zu Egons Bande aufnimmt und damit in ihre kriminelle Vergangenheit zurückfällt. Darin stimmt er mit den Frauen der Abpackstation, in der Vera arbeitet, überein. In ihnen findet er Verbündete, die sich Veras annehmen und sich um sie kümmern. Aber auf die Tatsache, dass er Vater werden wird, war er nicht vorbereitet. Damit stellt sich eine scheinbar unüberwindbare Hürde in den geplanten Lebensweg, den er auch für Vera ebnen will. Gelingt es beiden, hinter den Horizont sehen und sich den Platz erobern zu können, den ihnen niemand streitig machen kann? Spannende Lebensgeschichte junger Leute aus den achtziger Jahren in der ostdeutschen Provinz. Auch in diesem Falle präsentieren wir den Anfang des Buches, dem Siegfried Maaß drei bemerkenswerte Sätze vorangestellt hat „Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten wären rein zufällig. Die Wirklichkeit wird sie jedoch nicht völlig ausschließen“:
„Das Fenster
Die Mauer neben ihm ist aus grob behauenen Feldsteinen zusammengesetzt und sieht selbst bei Sonnenschein schmutzig grau aus. Jetzt, an einem trüben und späten Novemberabend, wirkt sie schwarz, als wäre sie erst vor Kurzem mit Teer angestrichen worden, und unwillkürlich sucht Stuck nach einem Pappschild mit der eilig hingepinselten Warnung: Vorsicht, frisch gestrichen!
Aber das Teerschwarz, weiß Stuck, existiert nur in seiner Einbildung.
Die Mauer ist zweihundertdreißig Schritt lang, das konnte er in der vergangenen Stunde mehrmals feststellen, nachdem er, um sich die Zeit zu vertreiben, zu zählen begonnen hatte. Müsste er nicht befürchtet haben, aus dem gegenüberliegenden Haus heimlich beobachtet zu werden, hätte er womöglich sogar Paradeschritt gewagt und wäre sich wie auf dem Marx-Engels-Platz im vergangenen Jahr vorgekommen, und nachträglich muss Stuck nun bei dieser Vorstellung lachen. Aber Paradeschritt und Armee gehören endgültig der Vergangenheit an. Was war, ist vorbei, denkt Stuck wie Vera.
Also zweihundertdreißig Schritt, überlegt er, das macht etwa zweihundert Meter aus. Zweihundert Meter tiefschwarze Mauer halten, ihn von dem Geschehen in dem Haus mit den vielen erleuchteten Fenstern fern.
Wenn er genau an der Mauer steht, kann er nur die obere Fensterreihe erkennen. Ist es dort? Er wechselt schnell auf die andere Straßenseite, wo er sich auf den Steinsockel eines Lattenzauns stellen kann. Nun hat er zusätzlich auch die unteren Fenster im Blickfeld. Welches ist es? Soll er vielleicht noch einmal die unfreundliche Pförtnerin ansprechen, um zu erfahren, wo sich der Kreißsaal befindet?
Dazu hat Stuck keine Lust, weil ihn die Frau erst vor Kurzem wie einen dummen Jungen abgefertigt hat.
„Sind Sie der Vater?“, wollte sie wissen, nachdem er sich höflich nach Vera erkundigt hatte.
Übereilt antwortete Stuck: „Der Vater? Nein, nein, der Mann bin ich, der Mann …“ Erst das überhebliche Lächeln der spitznasigen Frau ließ ihn seinen Irrtum erkennen.
„Ja, natürlich, der Vater!“, rief er hastig und fühlte das Blut in seine Ohren steigen und einen schmerzhaften Druck in den Schläfen. „Vera Stuckmann ist meine Frau, und ich möchte nur wissen, ob sie schon …“
Die Pförtnerin hatte zuvor das Guckkastenfenster einen Spalt breit geöffnet, schlug es nun wieder zu und legte ihr Strickzeug zur Seite, um mit dem Finger auf einer Namensliste entlangfahren zu können. Nachdem sie endlich einen bestimmten Punkt erreicht hatte, klappte die Pförtnerin mit der anderen Hand das Fenster wieder ein Stück auf.
„Ihre Frau ist ja erst gegen einundzwanzig Uhr gekommen, das ist noch keine zwei Stunden her!“, sagte sie vorwurfsvoll. „Geduld müssen Sie schon haben, junger Mann. Oder glauben Sie vielleicht, das geht hier rutsch, rutsch wie bei den Karnickeln?“
„Können Sie nicht trotzdem mal anrufen und eine Schwester fragen?“
Die Frau blickte ihn über ihre Brillengläser an und schob die Stirn in Falten. „Um mich dann anschnauzen zu lassen? Sie schüttelte heftig den Kopf, wobei das hochgesteckte Haar, das wie ein Vogelnest wirkte, bedenklich hin- und herschaukelte. „Die haben auf Station mehr zu tun, als dauernd nur an der Telefonstrippe zu hängen und die lästigen Fragen ungeduldiger Väter zu beantworten. Sie können ja morgen früh mal nachfragen. Vielleicht ist es dann so weit.“ Sie nickte ihm zu, als wollte sie ihm Mut machen, und schloss eilig das Guckkastenfenster.
Stuck starrte noch eine Weile auf das „Vogelnest“ und sah dann auf die Stricknadeln in den Händen der Frau – ihn, den aufdringlichen Besucher, nahm die Pförtnerin schon nicht mehr wahr.
Entmutigt verließ Stuck schließlich das Pförtnerhäuschen. Das Tor daneben war und blieb geschlossen, nicht einmal eine Katze hätte in das Klinikgelände eindringen können.
Was bildet die sich bloß ein, dachte Stuck und fand in seiner Enttäuschung und Wut eine Menge unfreundlicher Bezeichnungen, wovon ihm „dumme Kuh“ am besten gefiel – die dumme Kuh kommt sich wohl unheimlich wichtig vor …
Im Schein der Straßenlampe sieht er zur Uhr. Gleich Mitternacht. Was soll er nur tun? Unmöglich, jetzt nach Hause zu gehen, allein zu sitzen und zu warten. Und worauf sollte er auch warten? Niemand wird zu ihm kommen, um Bescheid zu sagen, wenn alles vorbei ist. Ein Fremder, etwa ein Bote der Klinik, würde das Hinterhaus, das Stuck Penthouse getauft hat, nicht einmal finden.
Hätte er dort etwa Ruhe und Geduld zum Warten?
Die Gaststätten schließen jetzt. Außerdem hat er Vera versprochen, nicht in die Kneipe zu gehen und auch zu Hause nichts zu trinken, damit er ohne eine Alkoholfahne zu ihr in die Klinik kommt. „Später dann, na, von mir aus“, hat sie großzügig eingeräumt. „Ihr Männer könnt ja sowieso nicht anders.“
Stuck zittert vor Kälte. Die nebelfeuchte Luft dringt in alle Knopflöcher ein, in der Eile hatte er nur die Windjacke übergezogen, die er auch an kühlen Sommertagen trug. Es wird ihm nichts anderes übrig bleiben, als ins Penthouse zu gehen, sonst liegt er womöglich mit einer Grippe fest, wenn die zwei nach Hause kommen.
Mein Gott! Stuck lacht laut, als er sich vorzustellen versucht, was wohl geschehen würde, wenn er am Tage der Entlassung auch nur eine leichte Erkältung hätte! Vera würde es fertigbringen, so lange in der Klinik zu bleiben, bis zu Hause wieder alles „keimfrei“ wäre.
Dieses Wort gewann in der letzten Zeit im Penthouse an Bedeutung; mit ihm begründete Vera ihre neue Art der Lebensführung, in der plötzlich nicht mehr gelten sollte, was bisher war. Eines Abends setzte sich Vera an den Tisch vor ein leeres Blatt Papier, sah ihn herausfordernd an und schrieb schließlich ihre „Zehn Gebote der Sauberkeit und Ordnung im Haus“ auf. Zwischendurch stand sie öfter auf, weil ihr längeres Sitzen schwerfiel, und jedes Mal schob sie dann Stuck den Zettel mit einem weiteren Gebot zu – er lachte laut, anders konnte er nicht. Was dachte sie sich zum Beispiel dabei, als sie aufschrieb, dass Schuhe künftig (also nach der Geburt des Kindes) im Penthouse nichts zu suchen hätten, sondern draußen abgestellt werden müssten? Wo? Einen Flur hatten sie im Penthouse nicht. Also auf dem Hof? Nun gut, sollte sie es ihm im Winter vormachen.
Alles hätte keimfrei zu sein, forderte Vera, und Stuck fragte daraufhin, was nach ihrer Meinung geschehen müsste, wenn einer von ihnen beiden mal Schnupfen bekäme …
Vera, von ihrer Idee besessen, schlug entsetzt die Hände zusammen. „Das darf einfach nicht vorkommen …“
„Mach dich nicht lächerlich“, sagte Stuck darauf. „Darf nicht vorkommen … Und wenn doch? Zum Beispiel ich? Wenn ich bei Wind und Wetter in unserer zugigen Halle bin oder Waggons entladen muss? Dabei fängt man sich schnell einen Schnupfen oder ’ne Halsentzündung ein, das weißt du doch selbst. Dann darf ich wohl nicht nach Hause kommen?“ Er lachte dabei, aber Vera erwiderte völlig ernst: „Es wäre wirklich am besten, wenn du dann wegbleiben würdest. Aber wo sollst du dann hin? Das ist das Problem. Auf keinen Fall darfst du in die Nähe des Kindes kommen, Stuck! Und sowie du dann zu Hause bist, musst du Mund- und Nasenschutz tragen. Anders geht es leider nicht.“
Stuck konnte so etwas nicht ernst nehmen; er riss hastig ein Taschentuch hervor, band es sich vors Gesicht und lief um den Tisch herum, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Er wollte Vera auf diese Weise zum Lachen bringen. Umsonst. Sie schüttelte den Kopf und sagte mahnend: „Dafür nehmen wir dann eine Windel, Stuck. Lass um Gottes willen dein Taschentuch stecken! Oder willst du etwa die Bazillen schön gleichmäßig verstreuen?“
Er gab es schließlich auf, sich mit ihr über die „Gebote“ zu unterhalten, die sie vor die Scheibe des alten Küchenschranks steckte. Er war davon überzeugt, dass sie bald in Vergessenheit geraten würden.
Aber er hatte sich geirrt; Vera trainierte täglich, als wäre das Kind schon geboren worden und ins Penthouse gekommen.
Er müsste also damit rechnen, dass sie mit dem Kind so lange in der Klinik bliebe, bis das Penthouse wieder keimfrei wäre. Oder würde sie vielleicht auf den Gedanken kommen, er sollte ausziehen, solange seine Erkältung anhielte? Geh zu deinem Freund Johannes, könnte sie beispielsweise sagen, dort kannst du höchstens alte Uhren infizieren. Und in diesem Zusammenhang wird es Stuck plötzlich bewusst, dass er in Brückstedt tatsächlich niemand außer seinem Reifemeister hat, an den er sich in bestimmten Situationen wenden könnte, zum Beispiel, wenn er mit Vera Schwierigkeiten haben sollte. Seine Mutter und ihr Mann Bernhard wohnen nicht mehr in Brückstedt, und zu Veras Eltern hat er immer noch keinen Kontakt, weil Vera ihn daran hindert. So bleibt ihm nur seine Frau. Tatsächlich nur sie.
Vermisst er irgendetwas, irgendwen? Und als müsse er sich insgeheim bei Vera dafür entschuldigen, dass ihn solche Gedanken überhaupt beschäftigen, spricht er laut ihren Namen aus und fügt sofort hinzu, was er bei ähnlichen Gelegenheiten gern macht: „Vera heißt im Russischen Glaube. Ich glaube an dich, du glaubst an mich …“ Stuck lacht. Ich glaube, denkt er, dass du es schon geschafft hast, Vera. Bestimmt ist unser Kind schon da. Oder vielleicht kommt es ausgerechnet in diesem Augenblick zur Welt?
Stuck entschließt sich, nach Hause zu gehen. Brückstedt scheint eine entvölkerte Stadt zu sein. Es kommt ihm vor, als habe er als einziger eine furchtbare Katastrophe überlebt, und plötzlich fallen ihm die Berichte und Informationen über diese entsetzliche Bombe ein, die alles Leben vernichtet, aber die Häuser stehen lässt. Stuck will diesen Gedanken schnell wieder von sich schieben und sich stattdessen vorstellen, was hinter einem der Klinikfenster im Augenblick geschehen mag; doch das verheerende Bild einer menschenleeren neutronenverseuchten Stadt lässt sich nicht verdrängen. Den Protestbrief, der im Sommer während einer Versammlung im Fruchthof verlesen worden war, hatte Stuck mit gutem Gewissen und ehrlichem Bekennen unterschrieben, wenn er auch daran zweifelte, dass sich der Mann im Weißen Haus davon beeindrucken lassen würde. Aber vielleicht stürzt aus aller Welt eine Flut ähnlicher Briefe auf ihn herab, dass er eines Tages nicht anders kann, als seine Anordnung zum Bau dieser Bombe zu widerrufen?
Der Anblick der menschenleeren Straßen und die Vorstellung, dass Vera vielleicht in diesem. Augenblick einen kleinen Menschen aus sich herauspresst, der auch ein Teil von ihm ist, lassen Stuck mit einem Mal schmerzhaft fühlen, was er bisher nur mit seinem Verstand erfasst hatte – würde es diese furchtbare Waffe jemals geben, geriete auch sein Kind in Gefahr! Sein Kind, das er noch nicht kennt, von dem er noch nichts weiß, das er aber bald ganz genau kennen wird – nein, denkt Stuck, und er möchte es am liebsten in die wie verlassen wirkende Stadt hinausschrein: Nein, dazu darf es nicht kommen!
Als würde es keinen anderen Platz für ihn geben und als müsste er das Haus mit den vielen erleuchteten Fenstern bewachen, damit niemand die Mütter und Kinder darin gefährden kann, kehrt er auf dem Absatz um, wie er es als Soldat gelernt hat, und bezieht wieder seinen Beobachtungsposten an der Klinikmauer.
Wo wird Vera jetzt sein? In dem Bett in ihrem Zimmer?
Oder im Kreißsaal?
Wenn er nur wüsste, wo sich dieser schreckliche Kreißsaal befindet, von dem die Frauen im Fruchthof behaupten, er müsse besser Kreischsaal heißen.
Ist sein Kind schon da?
Es wird es gut haben bei ihm, seinem Vater, und als müsse Stuck seine Überlegungen beenden, sagt er sich, dass die menschliche Vernunft nicht zulassen wird, sein Kind dieser mörderischen, nicht vorstellbaren Gefahr auszusetzen. Er wird alles tun, um das unbekannte Kleine zu beschützen. Und natürlich auch Vera, die so großen Wert auf „keimfrei“ legt. Er möchte dafür sorgen, dass das Leben ringsum keimfrei bleibt. Was er dafür tun muss, weiß er noch nicht, ist aber überzeugt, dass es ihm rechtzeitig einfallen wird.
Mit einem Mal spürt Stuck, dass etwas in ihm vorgegangen sein muss, für das ihm jetzt kein anderes Wort als „Wandlung“ einfallen will.
Ist die Armee dafür verantwortlich? Hat das Soldatsein ihn mehr verändert, als er sich bisher eingestehen wollte?
Wandlung? Stuck lauscht in sich hinein. Hat er sich verändert? Jetzt ist er verheiratet und in diesem Moment vielleicht schon Vater. Aber das scheint es nicht zu sein, was Stuck zu spüren glaubt, die Veränderung seines Familienstandes macht er für das neue Gefühl nicht verantwortlich. Liegt es daran, dass er sich erwachsener fühlt und plötzlich alles Zurückliegende mit anderen Augen sieht, mit Augen, denen der jugendliche Traumschleier weggerissen wurde?
Hatte er wirklich einmal daran gedacht, wie Che Guevara in die Berge zu gehen und mutige bärtige Männer um sich zu scharen, um zum Beispiel diesen Pinochet zu vertreiben? Dass es keine andere Möglichkeit als diese gäbe, Gewalt und Krieg, Unterdrückung, Elend und Hunger zu bekämpfen? Wie lange ist es her, dass er mit einem selbst gemalten Che-Guevara-Kopf auf dem Trikothemd umherlief und sogar in der Disco damit auftrat, weil er meinte, anders als Che es getan hat, könnte man Gerechtigkeit in der Welt nicht erreichen?
Waren wirklich erst drei Jahre seitdem vergangen?
Vera hatte das Trikothemd sorgfältig aufbewahrt, solange er als motorisierter Schütze diente. Doch nach seiner Rückkehr von der Armee wollte er es nicht wieder anziehen, und Vera fragte erstaunt, ob er seine Meinung geändert und seine früheren Vorsätze aufgegeben habe.
Nein. Doch er versuchte nicht, ihr sein Verhalten zu erklären, weil er ahnte, dass es ihm nicht gelingen würde.
Das Trikothemd blieb zwischen anderen Wäschestücken im Schrank liegen, bis es Vera später hervorholte und fragte, ob sie es anziehen dürfe. Stuck hatte nichts dagegen einzuwenden.“
Erstmals 1988 erschien im Militärverlag der DDR Berlin „Der Tod kam in der Mittsommernacht“ von Jan Flieger: Norwegen Ende 1942. Aus England kommend, wo er eine extrem harte Spezialausbildung durchlaufen hat, kehrt der Norweger mit dem Decknamen Gudersen per Fallschirm zurück in sein Heimatland. Dort soll er eine Widerstandgruppe gegen die Deutschen führen. Auf keinen Fall darf ihnen Gudersen in die Hände fallen … Auf der anderen Seite versucht Obersturmführer Hempel im Hauptquartier der Gestapo in Oslo mit aller Härte, englische Agenten und norwegische Widerstandskämpfer auszuschalten. Besonders stört ihn der Funker hier in Oslo, der meistens nachts zu hören ist und dessen Code sie nicht entschlüsseln können. Hempel will ihn fassen. Er soll ihn zu seiner Widerstandsgruppe führen. Ein tödliches Duell hat begonnen … Jan Flieger hat seinem spannend geschriebenen Buch einen Prolog mit einigen treffenden Sätzen von Ernest Hemingway aus dessen Buch „In einen anderen Land“ vorangestellt:
„Sie werden uns nicht bekommen“, sagte ich.
„Weil du zu tapfer bist.
Dem Tapferen passiert nichts.“
„Sterben tut er auch.“
„Aber nur einmal.“
„Ich weiß nicht. Wer sagt das?“
„Der Feigling stirbt tausend Tode,
der Mutige nur einen.“
Hier einige Auszüge aus dem spannenden Buch:
„Kristine
- Kapitel
Rechenbach blickte die Frau an, die Kristine hieß und die er, Gudersens Wunsch entsprechend, zur Funkerin ausbildete. Sie lernte mit einer Verbissenheit, die ihn verblüffte, so, als wollte sie die Erkenntnisse, für die man eine Ausbildung von Monaten braucht, an einem Tag gewinnen. Und er staunte, wie schnell sie gelernt hatte, wie unfassbar schnell. Es schien, als wäre ihr das Funken mit in die Wiege gelegt worden.
Doch immer wieder, immer aufs Neue, ertappte er sich bei dem Gedanken, sie nicht als Kämpferin zu sehen, sondern als Frau. Aber er musste diesen Gedanken verdrängen, denn es war keine Zeit für die Liebe. Doch die Gedanken waren immer wieder gekommen in all den Tagen, die zurücklagen.
Kristine …
Ich liebe sie, dachte er, ich liebe sie wirklich. Ich liebe sie, obwohl ich sie kaum kenne, nicht einmal ihren wahren Namen. Ich liebe ihre Augen, ihr Gesicht, ich liebe ihre Art zu reden. Ich liebe ihren Mut und ihren Stolz, ich liebe sie wegen ihrer Zähigkeit, die mir stärker zu sein scheint als bei anderen der Gruppe. Er wusste nicht, ob er sein Gefühl vor ihr verbergen konnte. Oft bemerkte er, dass auch sie ihn musterte, länger als die Kameraden.
Doch Rechenbach musste sich zur Disziplin zwingen, die der Kampf von ihm verlangte, ein Kampf, in dem die Liebe eine Gefahr bedeuten konnte.
Kristine hatte sich erhoben und war an das Fenster getreten. „Die Nächte, in denen es nicht mehr dunkel wird, sind eine zusätzliche Gefahr.“
Rechenbach hatte früher nur gelesen von dieser Mitternachtssonne, die im Mai begann. Am l. Juli würde der Tag achtzehn Stunden und zweiundvierzig Minuten lang sein.
Er hatte sich gleichfalls erhoben und stand nun neben Kristine am geöffneten Fenster, spürte ihre Schulter an seiner Schulter. Ein Gefühl des Begehrens durchflutete ihn.
Kristine blickte ihn an, und ihre Augen wichen den seinen nicht aus. Seine Kehle war trocken wie nach einem langen, gewaltigen Marsch unter der Wüstensonne.
Kristine sah wieder aus dem Fenster, aber er bemerkte, dass ihre Lippen leise bebten. Was mochte diese Frau denken? Er wusste nicht, wie lange sie so gestanden hatten.
Minuten?
Eine Ewigkeit?
Aber dann spürte er ihre Hand, die nach seiner tastete, ohne dass sie ihn dabei ansah.
Er stand eine Sekunde lang wie erstarrt, ehe er mit seiner Hand ihre tastenden Finger umschloss.
Noch immer sprachen sie kein Wort. Nur Kristine atmete schneller.
Rechenbachs Gefühl für diese Frau war übermächtig geworden. Nie zuvor hatte er ein solches Gefühl verspürt. Aber es lähmte ihn auch. Er hielt noch immer ihre Hand.
Es darf nicht sein, dachte er, aber er wusste, dass sein Gefühl stärker war als sein Wille, ihm nicht nachzugeben. Bisher war sein Wille immer stärker gewesen.
Er presste die Lippen aufeinander, sah in die Nacht, aber ihm schien, als ob Kristine ihn anblickte. Er spürte es, wandte sich ihr wieder zu. Sie hatte ihn wirklich angesehen.
Und plötzlich trat sie ganz dicht heran, legte ihr Gesicht an seine Brust. Dann hielt er sie in den Armen, ganz fest, und flüsterte ihren Namen in ihr Haar, immer wieder. „Kristine … Kristine …“
Sie hob ihr Gesicht und küsste ihn.
Er hielt ihren Kopf mit beiden Händen umfasst und presste sie heftig an sich.
Da war die Liege unter dem Fenster, das offen stand und den Blick freigab auf den Himmel über Oslo. Aber Rechenbachs Himmel waren die Augen Kristines.
Wie ein Mädchen ist diese Frau, dachte Rechenbach.
Sie lagen beieinander. Alles versank um sie her.
Die Sprache der Hände und der Lippen, minutenlang.
Ich habe es nicht gewollt, dachte Rechenbach, aber es doch gewünscht, vielleicht schon vom ersten Tag an, als ich sie sah.
„Kristine“, flüsterte er in ihr Haar. Und immer wieder „Kristine.“ Sie presste ihn so fest an sich, dass er staunte, welche Kraft sie besaß. Ihre Brüste waren klein und rund und sehr fest.
Sie küsste ihn wild, und seine Lippen brannten zwischen ihren Zähnen.
„Kristine.“
Schwach und unwirklich fern drang der Straßenlärm zu ihnen herauf.
Und dann, als Rechenbach erschöpft lag, schwer atmend, dachte er über ihre Worte nach.
Welche Kräfte steckten in dieser Frau?
„Schlaf noch“, sagte sie leise, als sie sich erhob. Sie blickte auf den Wecker, der neben dem Funkgerät stand. Und sie wusste, dass er zehn Minuten vor zwei Uhr kurz anschlagen würde. Um zwei würde er funken müssen, um drei den Standort wechseln und die Frequenz. Und wie viele würden ihn suchen in dieser Nacht?
Kristine glättete ihr Kleid. Sie lächelte noch einmal, als sie ging. Aber sie küsste ihn nicht mehr.
[*] Kapitel
Hempel stützte den Kopf in die Hände. Das Verhör war nicht so verlaufen, wie er es sich gewünscht hatte. Warum widerstand dieser Norweger? Warum ließ er sich foltern, ohne zu gestehen, ein Mann, vom Aussehen her wie geschaffen für die SS, groß und blond. Aber er war ein Feind. Ein Todfeind! Und hinter ihm verbarg sich eine ganze Gruppe: Heckenschützen, die aus dem Hinterhalt feuerten, die Minen legten, die diesem starrköpfigen Volk den Rücken stärkten für den Widerstandskampf.
Hempel erhob sich und lief im Zimmer auf und ab. Der Sturmbannführer wollte die Gruppe dieses Mannes haben, hier, in dem Verhörkeller, wo kein Schrei nach draußen drang. Wann würde dieser Mann reden?
Dann war noch der Anschlag auf eine Patrouille in Bergen und der Anschlag auf das Offizierskasino in Trondheim. Und da war noch dieser Jugoslawe, der irgendwo untergeschlüpft sein musste. Nur wo?
Hempel wollte nicht weiter denken.
Aber da gab es noch etwas. Da war dieser Funker hier in Oslo, der meistens nachts zu hören war und dessen Code sie nicht entschlüsseln konnten. So ein Funker war wie eine todbringende Grille. Wer wusste, was er den Engländern durchgab und welche Befehle er empfing?
Hempel fluchte. Er musste diesen Funker fassen! Das war sein persönlicher Ehrgeiz. Er hatte die Funker in Holland gefasst und in Belgien. Das musste ihm auch hier gelingen! Er musste die Peilwagen auf diesen einen Mann konzentrieren, bis sie ihn gefasst hatten. Aber er konnte sich ihm nicht mit seiner ganzen Kraft widmen, er hatte zu viele Aufgaben. Er und seine Männer hatten mehr als genug zu tun. Und doch! Er würde mehr Zeit für die Jagd nach diesem Funker verwenden, als ihm der Sturmbannführer zugestehen wollte, denn er hatte das Gefühl, dass sie dieser Mann zu einer Widerstandsgruppe führte, die ihnen schon lange, viel zu lange Sorgen bereitete. Er brauchte diesen Funker!
Hempel blieb vor der Karte Oslos stehen. Der Stadtteil, aus dem sich der Funker häufig meldete, war schon bekannt. Es waren immer wieder andere Straßen gewesen. Sie mussten, wenn er funkte, immer näher an ihn heranfahren, mussten ihn beim Senden fassen.
Aber von wo aus hatte er sich überall gemeldet? Nadeln mit schwarzen Köpfen auf der Karte Oslos zeigten seine Sendeorte. Eine Nadel steckte im Vigelandpark, eine in der Nähe der Sprungschanze, eine in der Rädhusgata, eine in der Slemmestadveien, in der Skodsmogatan, in der Arundveien, eine am Ende der Songsvann Vorortbahn, eine auf Bygdoy, der Museumsinsel, eine in der Drammensveien, eine in der Tordenskioldsgate, in der Youngstorget und in der Kongensgate. Überall schienen die Nadeln zu sein, verstreut über ganz Oslo.
Jedem schlägt die Stunde, dachte Hempel. Jedem!
[*] Kapitel
Es war Mittag, als Brukovic sie kommen sah. Sie kamen über die Wiese, und er sah sie an der Stelle, wo die Glockenblumen standen und der Hornklee.
Es war still ringsum, nur eine Drossel sang.
Er spähte vom Oberboden der Scheune aus, sodass sie ihn nicht sehen konnten. Es waren acht faschistische Soldaten, und sie liefen in einer Schützenkette im Abstand von fünf Metern. Während sie auf das Haus zukamen, beobachteten sie die Gegend und hielten ihre Maschinenpistolen schussbereit.
Das ist das Ende, dachte Brukovic, ich habe keine Waffe. Und was geschieht mit den Menschen, die mich aufgenommen haben? Myran war im Haus, auch Marja, und er konnte sie nicht warnen.
Die acht Männer kamen näher, doch noch immer hörte er sie nicht, auch die Drossel war wohl in das nächste Tal geflogen. Die Stille war beklemmend.
Die einzige Möglichkeit, die ihm blieb, war, sich hineinzugraben in das Heu.
Aber was würde Myran tun?
Was Marja?
Brukovic konnte nur abwarten. „Wenn ihr flieht“, hatte der SS-Aufseher Krause gesagt, „seid ihr ohne Chance. Wir finden euch immer. Ihr habt die Wahl zwischen dem schnellen und dem langsamen Tod, dem auf der Flucht oder dem im Lager.“
Jetzt hörte er die Stimmen der Soldaten.
Sie umstellten die Gebäude, und nun sah Brukovic, dass sie sich auch von der anderen Seite, in seinem Rücken, genähert hatten. Es waren mindestens zwanzig Mann.
Er spähte durch die Ritze hinab.
Birger trat aus dem Haus, und ein Offizier, der norwegisch sprach, fragte, ob er Flüchtlinge gesehen habe oder englische Agenten.
Birger schüttelte den Kopf, blickte finster, schwieg.
„Wenn wir jemanden finden, zünden wir deinen Hof an“, sagte der Offizier, „und werfen dich mit in die Flammen und jeden auf dem Hof.“
Birger schwieg. Was mochte ihm durch den Kopf gehen, diesem Mann?
„Durchsuchen!“, befahl der Offizier.
Brukovic wühlte sich in das Heu, bis er an der Scheunenwand lag, halb unter einem Balken.
Er wartete.
Wann kamen sie?
Dann hörte er Schritte unter sich. Stiefel hämmerten auf den Sprossen der Leiter.
Sie kamen!
Wenn es nur ein Mann war und er ihn packte, konnte er ihn mit in den Tod nehmen. Aber die Maschinenpistolen waren entsichert, und wenn er sich aufrichtete, würde ihn die Garbe treffen, in die Brust oder in den Bauch.
Der Mann trampelte im Heu herum.
Näher kamen die Stiefel und näher.
Und jetzt, da ihm der Tod so nahe war, dachte Brukovic an Marja, die sechzehnjährige Tochter Birgers, die blonde, langhaarige Marja, die wie ein Engel aussah.
Marja!
Was geschah mit ihr?
Marja in einem KZ?
Brukovic zitterte am ganzen Körper. Es war nicht die Angst um sich, es war die Angst um das Mädchen. Es war sein Verschulden, wenn sie in Gefahr geriet.
Näher und näher kamen die Stiefel, die herumwühlten im Heu. Er verfluchte diesen Mann, dem die Stiefel gehörten.
Jetzt würden sie ihn treffen.
Jetzt!
Die Stiefel trafen den Balken über ihm, streiften Brukovic kurz an der Schulter, entfernten sich.
Konnte das wahr sein?
Hatten sie ihn nicht entdeckt?
Der Mann stieg wieder nach unten.
Oder steckten sie jetzt die Scheune an, damit er ihnen als Fackel entgegenlief? Das hatten sie schon getan.
Die Drossel musste jetzt auf dem Dach der Scheune sitzen, er hörte sie sehr nah.
Begannen unter ihm schon die Flammen zu lodern?
Diese verfluchte Stille! Brukovic presste sein Ohr an das Holz, aber er hörte keine Stimme. Wo waren sie? Was taten sie? So lag er wohl eine Ewigkeit und wartete auf den Tod.
Dann erschrak er. Auf der Leiter, die zu ihm hinaufführte, vernahm er das Geräusch vorsichtiger Schritte.
„Hallo!“, rief eine Stimme leise.
Es war Marja.
Also waren sie weg?
Er wühlte sich aus dem Heu und stieg hinab. Sie standen dicht beieinander. Minutenlang. Plötzlich drängte sich Marja an ihn. Es darf nicht sein, dachte Brukovic plötzlich. Sie ist sechzehn, und sie ist Birgers Tochter, die Tochter des Mannes, der mich aufgenommen hat.
Er schob sie sanft von sich. Ich muss stark sein, dachte er dabei, ich darf diesem Gefühl nicht nachgeben.
Noch immer schwiegen sie beide.
Da hörte er Birgers Ruf.
Und das war gut.“
Erstmals 2015 veröffentlichte Stefan Eikermann als Eigenproduktion der EDITION digital sein Buch „Fliegenragwurz“ und zwar sowohl als gedruckte Ausgabe wie auch als E-Book: Vom Gedeihen des Fliegenragwurz unter seltsamen Bedingungen eines in die Jahre gekommenen Experiments. Sozialismus ist die überlegene der Gesellschaftsordnungen, nur die ersten hundert Jahre sind Scheiße, bringt es einer der Protagonisten unmissverständlich auf den Punkt. Ganz alltäglicher Irrsinn durchzieht die Beschreibung einer Zeit des Stillstandes und Aufbruchs wie ein roter Faden. Der Roman erzählt vom schier endlosen Härten des Stahls, Punk, Ruinen, Laubenpieperidyll und Langeweile, schildert Ausbruch und Scheitern, Siege und darin verborgene Niederlagen. Ob Generaldirektor, Schädlingsbekämpfer oder Jungpionier, jeder trägt sein Scherflein zum Gelingen von etwas bei, dessen Scheitern schon im Mangel an Kapital bei Marx zu liegen scheint. Das Buch bietet unerwartete Ansichten eines dahinsiechenden Landes. Und so beginnt der Blick auf dieses Land – aus sehr unterschiedlichen Perspektiven:
„1. Teil
Die Szenerie wirkt beschaulich. Kniehoch stehen von Sommerdürre gelbbraune Gräser und füllen leere Flächen, an denen keine Büsche angepflanzt oder Gestrüpp allein sich Lebensraum erkämpft hat. Pappeln ragen himmelan, kratzen an Betonwänden. Im Sanddorn spielen Kinder, einige. Genaues verdecken Blätter und Gezweig und das Transformatorenhäuschen zur Rechten. Einer der Jungen sitzt in der Spitze der Eberesche und beschießt seine Verfolger mit den unreifen Früchten. Mit vereinten Kräften bringen sie das kümmerliche Gewächs derart aus der Ruhe, dass der Beschuss nachlässt. Der oben verkrallt sich, kommt auch nicht herunter als sie mit grasgrünen Aprikosen nach ihm werfen. Irgendwo von hoch oben, aus dem achten Stock vielleicht, ruft eine erboste Stimme: „Ich komm gleich runter, lasst die Aprikosen, jedes Jahr der gleiche Mist!“, und sehr schnell ist Frieden mit einem Mal. Hastig verschwinden die Kinder, ein paar Mädchen dabei, hinter Häuserecken, drüben im Hausaufgang. Auch der Posten dort in der Vogelbeere ist geräumt. Zurück bleibt staubiger Sand zwischen Büschen und das lädierte Aprikosengewächs, nicht stärker als ein Männerarm.
Der Rufer erweist sich als Unbekannt und heißt ab jetzt der Olle aus dem Achten. Die Kinder finden sich wieder, hören kann man sie, auf die zwei aus dem Hausaufgang warten sie noch. Der ist ungeschützt, und der Olle steht in Pantinen vor dem Müllschlucker, redet mit einer Frau mit Einkaufsnetz und weist immer wieder auf den Baum und in unbestimmte Richtungen. Die Sonne hat ihren höchsten Punkt überschritten und phlegmatisch liegt der Nachmittag über der Stadt. Aus einem Kellerfenster, dem Schulgebäude zugewandt, klettern jetzt die Vermissten, bemerken die Zeichen nicht, einen verstohlenen Ruf und Bewegungen der Arme und hören ein Kommando, keinen Widerspruch duldend: „Kommt mal her ihr beiden!“ Die Anderen beobachten aus ihren Verstecken das Geschehen, sehen die beiden kerzengleich vor Irmtraut Schulz stehen.
„Ausgerechnet die“, mault René Karbstein hinter seinem Müllkasten. Energisch fragt sie: „Klasse? Name?“ Die beiden verpfeifen keinen, das nicht, Sonnabend nach der Dritten sollen sie die Grünanlagen hinter der Schule säubern. „So´n Scheiß“, sagt da einer und gemeinsam sehen sie dem roten Lada der Direktorin hinterher. Es ist Montag und die Versammlung zu Ende und noch drei, vier Lehrer verlassen das Gebäude unter dem Zettel Milchschleuse, was immer das bedeuten mag. Also alles sehr besinnlich, still, auch austauschbar und dennoch.
Diese Ruhe will einer nur stören. Der Klassenfeind, nein nicht der gefürchtete Heiko Maginski aus der Neunten, der die Kleinen verhaut, gemeint ist hier ein anderer, auf der Versammlung erwogen wie montags immer. Dieser Klassenfeind macht es allen hier nicht leicht. Er ist überall, sagt Genossin Schulz. Im Unterricht bleibt sie konkrete Namen schuldig. Er versteckt sich gut. So gut wie René Karbstein hinterm Müllkasten vielleicht?
Das Grünanlagenreinigen in der vierten Stunde am Sonnabend führt zu weiteren Verwicklungen. Sascha Tilberts Eltern werden ihm einen Entschuldigungszettel wegen Bauchschmerzen schreiben, in den Süden zu einem Familientreffen will man und fährt schon Freitags. So bleibt Mattias Manske, mit einem Milchkübel und Zange bewaffnet, unter Irmtraut Schulz´ Augen in der Vierten. Nicht die Schmach, wie ein Depp durch die Büsche zu kriechen, wurmt ihn, zu Hause gab es Anmecker: Eine Laube haben die Manskes und warten nun auf ihren Sohn, während andere einen der vorderen Plätze im Sonnabendstau erhaschen.
Irmtraut Schulz hat Zeit und sieht ab und an aus dem Fenster nach dem Schüler Manske und nimmt sich vor, mit Tilberts Eltern ein Gespräch zu vereinbaren. In einem kleinen roten Diarium vermerkt sie es. Auch nach dem Abklingeln der letzten Stunde sitzt sie an ihrem Schreibtisch und versieht Lernkomplexbögen mit Vermerken. Ihr ist nicht entgangen, dass die 9c zehn Minuten vor Schluss aus dem Gebäude geschlichen ist. Das Zimmer zu verlassen und die Kollegin davoneilen zu sehen erspart sie sich. Seit dreiundfünfzig ist sie Lehrer, Deutsch, Staatsbürgerkunde und genauso lange in der Partei. Gesehen hat sie, wie das Land wankte und im Juli an die Tür der Parteileitung im Bezirk geklopft. Sie lehnt sich zurück bei den Gedanken an damals. Soviel ist erreicht. Dennoch: Täglich sieht sie, wie die Leistungen geschmälert werden von ewigen Nörglern, ja Schwarzsehern selbst in den eigenen Reihen. Sie hat Zeit und wird sie nutzen, hier, heute und an ihrem Platz. Sie ist es gewohnt Entscheidungen zu treffen, sie durchzusetzen, auch alleine. So gestimmt, verlässt sie um dreivierteleins die Schule.
Es ist still, nicht zu glauben, dass so viele Leute hier wohnen. Niemand ist im gleißenden Licht der Straße zu sehen, und das Schurren der Aluminiumtür über den Steinboden beim Schließen, das einzige Geräusch zwischen Tausenden Fenstern. Lautstark hallt es von der gegenüberliegenden Hauswand zurück. Mit dem Wagen fährt sie nach Hause. Ihr Mann hat Dienst an diesem Wochenende.
Die eingetretene Ruhe hält rein äußerlich betrachtet bis Sonntagabend. Äußerlich nur, denn während das gemeine Volk sich amüsiert, in privateste Nischen verkriecht, bleibt die Anspannung hinter Kasernentoren, bewaffneten Einheiten aller Art und auch bei Irmtraut Schulz. In ihrer Zweieinhalb-Zimmer-Vollkomfortwohnung sitzt sie noch bis in den Abend und bereitet am Wohnzimmertisch das Parteilehrjahr für die Grundorganisation vor. Sie weiß: Der Klassenfeind schläft nie. Das macht die Sache nicht einfacher. Nur größte Wachsamkeit sichert den Erfolg. Später liest sie noch im Forum der Parteiarbeit und schläft auf dem Sofa ein.
Dem untätigen Wochenende folgt der Montag. Leben zieht ein in das Viertel, eine Stadt in der Stadt, ganz weiß strahlend in der frühen Sonne. Dem kniehohen Rasen rückt eine Maschine der Wohnungsverwaltung unter Staubentwicklung und beachtlichem Geräusch zu Leibe. Was bleibt, ist eine braungraue Fläche mit zerfetzten Müllschnipseln und geschreddertem Hundekot. Die Jungen werfen noch faustgroße Steinbrocken in das hohe Gras, bevor das Klingeln unerbittlich die Freiheit der letzten anderthalb Tage erstickt. Sascha Tilbert reicht seinen Entschuldigungszettel der Klassenlehrerin Frau Voss. Die legt ihn zu den übrigen und vermerkt E in der Anwesenheitsliste vom Sonnabend. Keiner weiß es, auch Sascha nicht: Die Familie Tilbert hat sich getroffen, einen Entschluss gefasst, man hat sich verabschiedet. Später, nicht alles lässt sich verheimlichen, sagt man: Die Tilberts haben einen Antrag gestellt.
In der Hofpause bewerfen sich Schüler aus den oberen Klassen mit der bei dieser Sommerhitze schon am Morgen sauren Milch. Herr Roloff geht dazwischen, besser: Er kommandiert Namen, und zurück bleibt nur der süßsaure Duft zerplatzter Picassoeuter.
Herr Roloff hat andere Probleme. Nach der ersten Stunde hat Karsten Bollstädt ihm erklärt, den Sonntag im Gewahrsam der Volkspolizei verbracht zu haben. Nein, nichts war vorgefallen, rein äußerlich fiel der Schüler Bollstädt aus dem Rahmen, bei der Ausweiskontrolle vor einem Kirchenrockkonzert. „Total im Arsch“ aus Westberlin und „Wartburgs für Walter“ von hier sollten spielen, doch das will Roloff nicht genauer wissen, er nimmt den Vertrauensbeweis des Jungen zur Kenntnis. „Falls da noch was kommt“, sagt der Schüler und: „Rasier dich mal“, der Lehrer, „siehst aus wie´n Bär um die Eier“ schon etwas leiser. Herr Roloff ahnt Schlimmes, auf den Jungen einwirken und solcherlei, und dabei ist der, wie man ihn sich wünscht. Noch grün hinter den Ohren und weiß doch wie´s langgeht. Meldung an die Schule, sprich Direktorin, Unterrichtung des Klassenleiters mit Auftrag, dem Schüler auf den Zahn zu fühlen, warum genau wird er nicht erfahren, nicht auf diesem Wege. Irgendwie ist er auch stolz, schon jetzt mehr als die Alte zu wissen. Die Alte, so nennt ein Teil des Lehrkörpers Irmtraut Schulz.
Zur gleichen Zeit werden die Tilberts von den Kaderleitern ihrer Betriebe zu einem Gespräch geladen. Der Ritus dieser Aussprachen in Anwesenheit des Parteisekretärs folgt festgelegten Bahnen, sowohl im VEB SGH Spritzgusshalbzeuge Betriebsteil Mechanisierung als auch in der Kinderkombinationseinrichtung Hans Beimler. Das Vertrauen der Partei sei begrenzt und in einem solchen Falle verbraucht, Änderungsverträge werden ausgereicht, Dreher steht in einem und meint das Entgraten diverser Halbzeuge, im anderen Küchenhilfskraft. Beide werden unterschrieben. Vom erschöpften Vertrauen der Tilberts ist nicht die Rede.
Keiner von den Frauen und Männern in der von fahlem Sonnenlicht gesprenkelten Werkhalle fragt, allen ist klar: Wer von da oben hierher kommt, hat sich unbeliebt gemacht. Hier reicht das für ein freundschaftliches: „Na wird schon“ vom Brigadier an den Ingenieur. Irgendwann reden alle, das kann dauern, aber Zeit haben sie ja miteinander und: „Unsere Brigadefeiern sind die schönsten im Betrieb.“ Mit der Mütze und dem Blaumann sieht der neue Kollege gar nicht mehr so fremd aus.
In der Küche der Kindereinrichtung scheint es Frau Tilbert, nicken ihr die Küchenfrauen anerkennend zu. „Siehst die Kleinen ja noch bei der Essenausgabe“, sagt eine. Anne Tilbert laufen Tränen. Als sie nach Hause geht, rufen Kinder aus dem Garten: „Tante Tilbert“, sie winkt zurück.
In der Mittagspause kommen zwei junge Männer in die Schule und verschwinden im Sekretariat. Herr Roloff denkt sich seinen Teil bei Linseneintopf mit Brot. Die Kleinen verfüttern ihre Scheiben auf dem Rückweg an Spatzen und dickfellige Tauben. Für heute hat er genug, sagt nichts. Ein ungutes Gefühl beschleicht ihn, lässt ihn nicht los, und allein die Sache mit Bollstädt ist es nicht. Diskussionen wird es morgen in der Zehnten keine geben, die Klasse kennt er, die FDJ-Sekretärin Simone Maerten geht zur Fahne, zehn Jahre, die Schüler sind auf Linie, Eltern hohe Tiere in der Partei, allein zwölf rote Punkte im Klassenbuch hinter den dreiundzwanzig Namen. Geschichte der SU bis neununddreißig ist Prüfungsvorbereitung, und die Unterrichtshilfen kann er vergessen, da wissen einige Schüler in der Achten mehr. Besser andere Prüfungsthemen wählen, Genossen. Im nächsten Jahr ist die 9c an dieser Stelle. Da geht es nicht ohne Nachfragen ab, und wie weit kann er Antworten geben? So denkt er, und in der wöchentlichen Dienstbesprechung ist Bollstädt kein Thema und von Tilbert die Rede nicht. Irmtraut Schulz erwähnt einzig die Patenschaft Roloffs für den Schüler Maginski, kein anderes Mitglied des Lehrkörpers war sonst dazu bereit, und zustimmendes Nicken geht durch die Runde.
Herr Roloff geht also zur U-Bahn und beschließt, den Unterricht nach Lehrplan anzugehen, vielleicht beruhigt sich ja die Situation, und wer weiß, was Bollstädt den Polizisten an den Kopf geworfen hat, manchmal ist der arg vornweg mit seinem Mundwerk. Bei der nächsten Elternversammlung wird er ein paar Minuten mit den Eltern reden, schließlich ist der Junge ein potenzieller Kandidat für die EOS, mit seinen Leistungen.“
Erst kürzlich haben Erika und Jürgen Borchardt als Eigenproduktion der EDITION digital unter dem Titel „Petermännchen will König werden. Seltsame Geschichten um seine Erlösung“ den dritten Band der schönsten Sagen und Geschichten um den Schweriner Schlossgeist veröffentlicht – und zwar ebenfalls sowohl als gedruckte Ausgabe wie auch als E-Book: Wer möchte schon ein Zwerg und Schlossgeist bleiben, wenn er in Wirklichkeit ein verwunschener Prinz ist und König sein könnte! Der Schlossgeist Petermännchen bemüht sich seit Hunderten von Jahren redlich um seine Erlösung. Dafür gibt es viele verschiedene Möglichkeiten; mit ihm ringen, ihm das Schlüsselbund holen, sein Schwert putzen oder ihm bloß – den Kopf abschlagen. Es würde auch schon genügen, wenn seine Laterne mit einer bestimmten Schere geputzt wird oder wenn jemand etwas ganz laut ruft. Reicher Lohn winkt dem, der das macht. Und – fast – alles scheint auch ziemlich einfach zu sein. Aber die Wirklichkeit ist eine andere, birgt Schwierigkeiten über Schwierigkeiten. Als das beinah verzweifelte Petermännchen selbst seine Erlösung in die Hand nehmen will und sie scheinbar auch nach Plan verläuft, stellt sich am Ende heraus: Sogar ein Geist kann sich irren. Aber eine Möglichkeit bleibt ihm noch. Dafür braucht er eigentlich bloß Geduld. Und wieder kommt alles anders …
Dies sind frei gestaltete Geschichten nach Volksüberlieferungen. Benannt sind auch die Sagenorte. Sie aufzusuchen, um dort das geheimnisvolle Geschehen in der eigenen Fantasie zu erleben – wofür die Illustrationen einen zusätzlichen Raum bieten, mag ein weiterer Reiz des Buches sein. Hier eine der Erlösungssagen:
„Der geschwätzige Prahlhans
Sagenort: Schwerin – Schloss, Hauptportal, Kastanie am Eingang zum Burggarten
Für den Wachdienst am Hauptportal des Schlosses wählten die Offiziere mit Vorliebe hübsche, große und gut gewachsene Burschen aus. In ihren schmucken Uniformen waren sie tatsächlich eine wahre Zierde. Und es erfüllte sie auch selbst mit Stolz, für diesen Posten auserwählt zu sein. Manch einem stieg die Ehre jedoch zu Kopf.
Der junge Edwin war wegen seines schönen Wuchses einem der Offiziere des Herzogs aufgefallen, geworben und auch bald für diesen Wachdienst eingeteilt. Edwin hatte schlanke, aber kräftige Glieder, schmale Hüften und einen breiten Brustkorb, ebenmäßige Gesichtszüge, nussbraunes Lockenhaar und einen kecken Schnurrbart. Wer ihn ansah, dem war er eine Augenweide.
Jedes Mal, bevor er seinen Dienst antrat, wusch sich der schöne Edwin hingebungsvoll von Kopf bis Fuß, sogar die Ohren, fettete das Haar und den Schnurrbart mit duftender Pomade ein, bis beides glänzte wie eine Speckschwarte. Dann bürstete er die Uniform fast eine Stunde lang, so dass auch nicht das winzigste Fusselchen zu sehen war. Er achtete in allen anderen Dingen gleichfalls darauf, dass alles bis zum letzten I-Tüpfelchen tipptopp war. Wenn er dann die Uniform und die blankgeputzten Stiefel anhatte, betrachtete er sich wohlgefällig im Spiegel. Ja, so konnte er sich jederzeit sehen lassen, sogar auf einem Fest des Herzogs. Wahrscheinlich war es nur eine Frage der Zeit, dass er eine Einladung ins Schloss erhielt. Irgend jemand aus der fürstlichen Familie oder vom Hofstaat musste doch Augen im Kopf haben. Sie mussten doch das außergewöhnlich Schöne seiner Person erkennen.
Bald kam es, wie es kommen musste. Edwin dünkte sich nicht nur schöner sondern auch klüger als alle anderen und hatte an jedem, nur nicht an sich selbst, etwas auszusetzen. Ja, es fehlte nicht viel, und er hielt sich für ebenso prächtig und unfehlbar wie der Herzog selbst, dem zu dienen er die Ehre hatte. Zugleich bildete er sich etwas darauf ein, in der Mitternachtsstunde vom Sonnabend zum Sonntag geboren zu sein. Er war ein Sonntagskind.
An einem Abend im Monat Mai stand Edwin wieder einmal geschniegelt und gebügelt Wache. Ein frischer Wind drohte seine sorgsam gelegte Frisur durcheinanderzubringen. Edwin stellte sich Schutz suchend hinter den Stamm der dicken alten Kastanie, die am Eingang des Burggartens stand. Da hörte er ein leises Kichern. Alsbald verstummte es und wurde an anderer Stelle vernehmbar. „Wer da?“, rief Edwin, der Wachsoldat, seinen Schreck hinter einem forschen Ton verbergend. „Zeig dich, so dir dein Leben lieb ist!“ Drohend hielt er den Säbel in den Händen. Da raschelte es neben ihm, und mit einem Male, wie aus dem Erdboden gewachsen, stand ein kleines Männlein vor ihm, mit einem federgeschmückten Hut auf dem Kopf, einem Hut, fast so groß wie das ganze Kerlchen. Es hatte Stulpenstiefel an, die ihm bis zu den Knien reichten. Dazu trug es ein enges Wams und einen großen weiß gefältelten Kragen. Edwin kannte diese Tracht der Kriegsleute, die einst durch Mecklenburg gezogen und das Land verwüstet hatten. Mehr als die unvermutete Erscheinung machte ihm jedoch zu schaffen, dass er den Namen des seltsamen Kragens, der so fein gekräuselt war, vergessen hatte. Das konnte doch nicht sein, dass er, der schöne und kluge Edwin, den Namen nicht wusste! Schier unmöglich, er kam einfach nicht drauf. Mehlkragen? Nein, so hieß er nicht. Aber irgend etwas mit Mehl hatte es zu tun, überlegte Edwin weiter. „Mehl, mahlen, Mühle“, murmelte er vor sich hin. Natürlich! Eine Mühlsteinkrause war es. Wusste er doch, dass er alles wusste! Abschätzig blickte er auf den kleinen Mann. Lächerlich, sich wie ein Soldat zu kleiden, wenn man so klein wie ein zehnjähriges Kind ist. „Guten Abend, Soldat“, sagte das Männchen. Scheinbar bemerkte es die geringschätzigen Blicke Edwins nicht. „Wollen wir unsere Kräfte messen?“ Nun musste der schöne Edwin doch grinsen. Er fand es belustigend, dass der Wicht mit dem grauen Bart ihn herausforderte. Verächtlich winkte er ab. Das Männchen aber blieb beharrlich. „Überleg es dir gut. Wenn du drei Nächte mit mir ringst, dann bin ich von dieser zwergenhaften Gestalt erlöst und du ein reicher Mann“, sprach es. „Du weißt es offenbar nicht“, setzte es erklärend hinzu, „ich bin ein verwunschener Königssohn.“ Edwin wollte sich schier ausschütten vor Lachen. „Du und ein Königssohn?“ Doch das Männchen fuhr mit unerschütterlicher Ruhe fort: „Lach nur. Ja, lach nur. Aber hör mir auch zu. Deine Kameraden haben dir bestimmt schon Geschichten vom Schlossgeist erzählt.“ Das ist wahr, dachte Edwin, aber ich habe die ja eher so als Jux genommen. Sollte es den zwergenhaften Geist wirklich geben? Und jetzt steht er da vor mir? Der Kleine sprach weiter: „Du bekommst von mir so viel, dass du dir mehrere Uniformen, sogar aus feinem englischen Tuch, kaufen kannst.“ Jetzt wurde Edwins Geist munter. „Und Stiefel aus Leder, wie sie der Herzog trägt, Pomade, die dein Haar wie Seide glänzen lässt. Ich habe dich beobachtet, ich kenne deine geheimen Wünsche.“ Edwin überlegte schweigend und beobachtete den kleinen Mann nun aufmerksamer. „Seit vielen, vielen Jahren muss ich hier wandeln und auf meine Erlösung warten. Du bist ein Soldat, der in der Mitternachtsstunde und sogar an einem Sonntag geboren ist. Du könntest es tun.“ Noch war der schöne Edwin unschlüssig. Petermännchen spürte seinen schwächer werdenden Widerstand. „Wer diese Tat vollbringt, wird für alle Zeit berühmt und im ganzen Land bekannt sein. Alle würden dich bewundern, auch die Mädchen. Niemand würde dir mehr widerstehen können.“ Oh, das waren schlagende Argumente. Edwin hatte bereits des Öfteren überlegt, was er noch tun könnte, um mehr Chancen bei den Mädchen zu haben. Er war sogar schon darauf verfallen, Tanzunterricht zu nehmen, damit er sich des Sonntags elegant zur Musik wiegen könnte und nicht wie die Bauernburschen herumhopste. Er in seiner schönen Uniform, tanzend wie einer vom Fürstenhofe, was würden sich die Mädchen um ihn reißen! Alle würden ihn kennen und bewundern. Das ist ein Angebot, dachte er. Nun wurde Edwin ernst und nachdenklich: „Du bist wirklich das Petermännchen?“ „Ja, so ist es! Und wenn du mich erlöst, gewinne ich meine früheren Gestalt und auch mein Königreich zurück.“ „Wie kann so etwas geschehen?“, wollte Edwin wissen. „Meinst du, der Herzog wird dir so mir nichts dir nichts das Land Mecklenburg überlassen? Nie und nimmer wird das geschehen. Warum auch?“ Da antwortete das Petermännchen mit dunkler Stimme: „Das braucht er auch nicht. Er wird dann nicht mehr da sein. Schwerin und das Schloss mitsamt der Burginsel werden im Augenblick meiner Erlösung im See versinken, und das alte Schwerin wird in strahlender Pracht daraus empor tauchen.“ Und sogleich fragte er noch einmal: „Ringst du nun mit mir?“ Edwin überlegte wieder und schüttelte dann den Kopf. „Nein!“ Er würde nicht mit dem Männlein ringen. Nicht, weil ihm das wunderschöne Schloss leid tat, das er jetzt bewachte, oder gar die herzogliche Familie, die ihm den Lohn zahlte. Er würde dann eben bei dem neuen Herrscher Wache stehen. Das war es nicht. Aber bei dem Gerangel mit dem Schlossgeist könnte ihm dieser ja seine schöne Uniform beschmutzen. Und er hatte nur zwei. Abermals schüttelte er den Kopf.
Petermännchen kannte nicht nur die Eitelkeit des schönen Edwin. Er wusste ebenfalls, wie überheblich sich dieser Soldat gegenüber anderen benahm. So sagte er scheinbar resigniert: „Ich habe es schon befürchtet, dass du nicht der Richtige für mich bist. Das ist nämlich furchtbar schwer. Derjenige, der das könnte, müsste nicht nur klug und stark wie du sein, sondern auch verschwiegen wie ein Grab.“ Listig sah er den Soldaten an. „Und wer ist schon klug und stark und kann dazu noch schweigen?“ Damit war er aber an den Richtigen geraten. Was, da wagte es jemand, an seiner Unfehlbarkeit zu zweifeln? Edwin wusste gar nicht, sollte er zornig werden oder lachen. Das Männchen tat jedoch, als sei es nicht einmal enttäuscht. „Da sehe ich mich also nach einem anderen Soldaten um, der den fürstlichen Lohn verdient.“ Damit wandte der Schlossgeist Edwin den Rücken zu und tat so, als ob er weggehen wollte. „Halt! Halt!“, rief nun der Soldat. „So war es doch nicht gemeint. Was denkst du, wie ich schweigen kann! Kein Mensch wird von mir jemals auch nur ein Sterbenswörtchen erfahren. Das wäre doch gelacht. Ich werde s
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