Mit diesem neuen Newsletter fliegen wir wieder einmal durch die Zeiten. Und so entführt uns gleich der erste der fünf Deals der Woche, die im E-Book-Shop www.edition-digital.de jeweils eine Woche lang (Freitag, 29.03.19 – Freitag, 05.04.19) im Preis gesenkt sind, in das Frankreich des 19. Jahrhunderts – in ein ziemlich frivoles Frankreich sogar. Denn genau um solcher Art Geschichten geht es in „Die Kutsche als Liebesnest und andere Frivolitäten“ von einem gewissen Alphonse Allais, mit dem uns Klaus Möckel dankenswerterweise bekanntmacht. Und sehr wahrscheinlich dürfte sich mit diesem vergnüglichen Buch auch hierzulande der Bekanntheitsgrad dieses französischen Autors ändern. Das ist jedenfalls zu hoffen und – zu erwarten.

Die anderen vier der fünf Deals der Woche haben alle denselben Autor und sind entsprechend dem oben angeführten Flug durch die Zeiten in höchst unterschiedlichen Zeiten angesiedelt, zwei davon tragen biografischen Charakter.

In „Mit Leier und Schwert“ beschäftigt sich Ulrich Völkel mit dem Leben von Theodor Körner, in „Adler mit gebrochenem Flügel“ mit dem von Ernst Moritz Arndt – zwei Namen, die in der deutschen Geschichte eine wichtige, wenn auch nicht unumstrittene Rolle spielen, wie jüngste Diskussionen um beide Persönlichkeiten beweisen.

Mit „Der Tresor des Diktators“ hat Völkel einen spannenden Polit-Thriller vorgelegt, der in Südamerika, in Afrika oder vielleicht auch in Deutschland spielen könnte, wie der Autor meint.

Auf jeden Fall in Deutschland und zwar in jenem nach der Wende ist seine Erzählung „Daheim, in meinem fremden Land“ angesiedelt. Hoffentlich wissen Sie noch, was die Trasse war. Ansonsten googeln, wie es im Deutschen richtig geschrieben wird. Und es funktioniert. Ich habe es ausprobiert.

Und damit auf nach Frankreich!

Noch ganz druckfrisch ist die soeben bei der EDITION digital sowohl als gedruckte Ausgabe wie auch als E-Book herausgekommene Neuerscheinung, die Klaus Möckel aus dem Französischen übersetzt, herausgegeben und mit einem ausführlichen Nachwort versehen hat. Alphonse Allais „Die Kutsche als Liebesnest und andere Frivolitäten“: Apotheker wie sein Vater ist er nicht geworden, der 1854 in Honfleur am Ärmelkanal geborene Schriftsteller Alphonse Allais, dafür aber ein gewitzter Journalist, Kabarettist und Verfasser zahlreicher spritziger Kurzgeschichten. In Deutschland kaum bekannt, gehört er in Frankreich zum bleibenden Bestand der Humoristen, auf deren Texte immer gern zurückgegriffen wird. Allais’ großes Thema war die Liebe. In ereignisreicher Zeit aufgewachsen, die vom Deutsch-Französischen Krieg 1870/71, der Kommune und späteren revanchistischen Bestrebungen der Politik geprägt war, verspottete er gern die Militärs, besonders den Kriegsminister Boulanger. Vorwiegend aber widmete er sich dem Milieu, in dem er seit seiner Übersiedlung nach Paris zu Hause war: der Bohème von Quartier Latin und Montmartre. Leichte Mädchen, geizige Schankwirte, gehörnte Ehemänner, trinkfeste Künstler, aber auch vertrocknete Beamte, heruntergekommene Adlige, wunderliche Seeleute und Zöllner sind die Helden seiner griffig geschriebenen pointierten Texte. Wenn der Maler in etwa sein Modell in Stimmung bringt, der sparsame Schwager den Leichnam des Kohlenhändlers zum Fotografen schleppt, eine sexverrückte Gräfin den Musikus am liebsten mitsamt seinen Geräten ins Bett holen will, verspürt man selber den Kitzel und die Freude, die dieser arglistig-freundliche Franzose beim Ausdenken seiner Geschichten ganz bestimmt hatte. Einen guten Eindruck, wie Alphonse Allais zu leben, zu lieben und zu schreiben verstand, vermittelt gleich die erste seiner frivolen Geschichten aus dem „Liebesnest“. Eine Bacchantin ist übrigens zunächst einmal einfach eine Anhängerin des römischen Gottes Bacchus …

Die entflammte Bacchantin

Der reiche Kunstliebhaber vertiefte sich lange in das Bild.

Es war ein schönes, gerade erst gemaltes Bild, das eine halbnackte, auf dem Rücken liegende Bacchantin darstellte.

Man konnte erkennen, dass es sich um eine Bacchantin mit Weintrauben handelte; sie knabberte mit ihren prächtigen Zähnen daran. Weinlaub rankte sich in ihr Haar wie in das Haar jeder Bacchantin, die auf sich hält oder es auch sein lässt.

Der reiche Kunstliebhaber war zufrieden, ohne es ganz zu sein.

Angstvoll erwartete der junge Maler die für ihn wichtige Entscheidung.

„Mein Gott, ja“, sagte der Kunstliebhaber, „das ist recht gut … ist wirklich nicht schlecht: Der Kopf ist gelungen, der Busen auch, es ist trefflich gemalt … Die Weintrauben lassen mir das Wasser im Mund zusammenlaufen …Trotzdem … Ihre Bacchantin sieht noch nicht genug nach einer … wie sag ich es nur … Bacchantin aus.“

„Wäre es Ihnen vielleicht lieber, wenn die Frau betrunken wäre?“, äußerte sich schüchtern der Künstler.

„Betrunken? Keineswegs! Vielmehr … wie soll ich es bloß erklären – entflammter!“

Der Maler erwiderte nichts, kratzte sich aber den Kopf.

Dabei hatte der reiche Kunstliebhaber in diesem Fall recht. Die Bacchantin war außerordentlich hübsch, aber für eine Bacchantin ein wenig vernünftig. „Wohlan, junger Freund“, zog der Mäzen die Schlussfolgerung, „setzen Sie noch ein paar Stunden dran. Ich komme morgen früh wieder. Bis dahin versuchen Sie die … wie sagte ich doch?“

„… die Bacchantin zu entflammen!“

„Genauso ist es.“

Und der Mäzen verschwand.

Entflammen wir die Bacchantin, sagte sich mutig der Maler, entflammen wir die Bacchantin!

Modell für die junge Dame auf dem Bild hatte ihm ein achtzehnjähriges Prachtmädchen gestanden, das es mit der Moral nicht so genau nahm und bestimmt über den schönsten Busen von Paris nebst all seinen Vororten verfügte.

Ich glaube, wenn ihr dieses Modell kennen würdet, ihr würdet nie mehr ein anderes wollen.

Der Kopf entsprach dem Busen, der ganze übrige Körper dem Busen und dem Kopf. Folglich …

Leider war sie ein wenig kühl.

Eines Tages, als sie bei Gustave Boulanger Modell stand, sagte der Meister mit einer Spur Ungeduld zu ihr: „Aber so sei doch ein bisschen entflammter, man könnte ja meinen, du bist ein amtlich bestalltes Modell.“ (Unter uns, der Scherz ist aus dem Mund eines Akademiemitglieds wirklich deplatziert.)

Unser junger Künstler begab sich in aller Eile zu seinem Modell.

Die junge Dame schlief noch. Er brachte sie dazu, sich zu erheben und anzuziehen. Alles mit professioneller Diskretion – dann nahm er sie mit zu sich. Er hatte so eine Idee.

Sie speisten zusammen.

Gerichte, aufs kräftigste gewürzt, bedeckten den Tisch, und der Champagner sprudelte in solchem Überfluss, als wäre es Regenwasser. Nach dem Mahl, das könnt ihr mir glauben –, was die entflammte Bacchantin betraf, so gab es eine entflammte Bacchantin!

Auch der junge Maler war entflammt. Sie nahm wieder ihre Pose ein.

„Donnerwetter“, rief er, „das ist es!“

Man kann es ihm glauben, das war’s wirklich.

Sie hatte sich ein wenig zu weit zurückgelehnt. Ihre Wangen flammten in einem fröhlichen Karmin, ein ungemein delikates Rosa bedeckte in sanften Abstufungen das makellose Elfenbein ihres königlichen Busens.

Sie hielt die Lider fast geschlossen, aber durch ihre langen Wimpern hindurch sah man das lustige Blitzen ihrer kleinen grauen Augen.

Und in dem einzigartigen Purpur ihres halbgeöffneten Mundes leuchtete das feuchte, verführerische Perlmutt ihrer schönen Zähnchen.

Als der reiche Kunstliebhaber am nächsten Tag wiederkam, fand er das Atelier geschlossen.

Er stieg zur Wohnung hinauf und klopfte bum, bum, bum, unzählige Male an die Tür.

„Meine Bacchantin“, rief er, „was ist mit meiner Bacchantin!“

Endlich ertönte eine Stimme aus der Tiefe des Schlafraums, die nur der Bacchantin gehören konnte, und sie erwiderte:

„Noch nicht fertig!“´

Das erste der vier Bücher von Ulrich Völkel, die in diesen Newsletter vorgestellt werden, wurde erstmals 1983 im Verlag der Nation Berlin gedruckt – „Mit Leier und Schwert. Roman um Theodor Körner“: An einem sonnigen Augusttag des Jahres 1811 trifft der neunzehnjährige Studiosus Theodor Körner in Wien ein, wegen Händel von der Universität Leipzig verwiesen und dennoch ein Glückskind: Schon nach kurzer Zeit ist er erfolgreicher Autor, k.k. Hoftheaterdichter und Verlobter der von den Wienern vergötterten Schauspielerin Toni Adamberger. Doch im März 1813 schließt er sich spontan den Freiwilligen Jägern an, wird mit Liedern wie „Lützows wilder Jagd“ zum Dichter der Befreiungskriege und fällt im Gefecht bei Gadebusch im August 1813. Ulrich Völkel vermeidet es ebenso, Körner als Nationalhelden überzubewerten wie als Schillerepigonen und unreifen politischen Brausekopf abzutun, indem er ihn aus seiner Zeit heraus verstehbar macht und die Befreiungsbewegung gegen Napoleon in die Handlung einbezieht. Er bietet als Zentralfigur günstige Voraussetzungen, da er durch die engen Beziehungen seines Vaters zu Schiller und Goethe mit den beiden Klassikern von Kind auf bekannt war, von Wilhelm von Humboldt in Wien freundschaftlich aufgenommen wurde und während des Feldzuges von 1813 mit Patrioten wie Lützow und Arndt in enger Beziehung stand. Es ist Ulrich Völkel gelungen, das Theodor-Körner-Bild von Verzerrungen und Entstellungen zu befreien, die seit dem 19. Jahrhundert das Verständnis dieses Dichters erschwerten, und dem Leser eine bedeutende Epoche nahezubringen. Greifen wir Körners Aufenthalt in Karlsbad heraus, während dessen  er offenbar glücklich war – aus gutem Grund, wie wir erfahren:

„Theodor aber war glücklich. Während des vierwöchigen Aufenthaltes in Karlsbad traf man sich öfter im Hause der Baronin und ihrer schönen Nichte. Theodor fand manche Gelegenheit, in die Nähe der Angebeteten zu gelangen. Die Mutter sah es gern. Emma neckte den Bruder mit harmlosen Anspielungen. Und aus ihm sprudelten die Verse wie das Wasser aus den vielen Quellen. Er schrieb drauflos, arbeitete nicht an den Bildern, hatte keine Mühe mit Reim und Metrik. Er nahm sich nicht die Zeit, Empfindungen und Beobachtungen zu ergründen, sondern brachte die Erscheinung zu Papier und verlor dabei das Wesen. Dennoch,, seine poetischen Ergüsse hatten den gewünschten Effekt.

Marianne begegnete ihm von Mal zu Mal freundlicher. Und als sie eines Morgens am Brunnen nebeneinanderstanden, berührte er wie zufällig ihre Finger. Sie erschrak zwar, zog die Hand aber nicht zurück. Da erfüllte ihn ein heißes Verlangen. Wären sie allein gewesen, hätte er sie in seine Arme gerissen und den schönen Mund mit leidenschaftlichen Küssen überschüttet; so stellte er es sich jedenfalls vor.

Marianne – seufzte er, wenn er des Abends in seinem schmalen Bette lag. Marianne! Und kein Wort mehr von Heidelberg zum Vater. Wien, natürlich Wien! Dort lebte sie.

Nun endlich hatte die Postkutsche den Hügel erreicht auf dem holpernden Weg. Da sah er die Stadt, vom Sonnenlicht überstrahlt. Dort würde er sein Glück machen. Er spürte es. Er war ein Dichter. Ich komme, werde sehen und siegen.

Karl Mordechai hätte ihn einen verquasten Poeten genannt, aber der Freund war ja nicht in der Kutsche.

„Wien!“, rief Theodor, und er dachte: Marianne.

Angesichts der Hoffnungen, die er seit Karlsbad an diese Stadt knüpfte, und in dem Augenblick, da er sie betrat, durchströmte ihn eine Erwartung besonders, verflüchtigte sich, was noch Sehnsucht nach dem Rhein gewesen, lösten sich die Bilder vom tollen Leipzig auf, und im Nebel des Vergessens versanken die Berliner Ereignisse.

Wien hieß Marianne Saling, hieß glänzende Stadt, hieß Erfolg. Ja, hier wollte er ankommen wie Cäsar in Zela: Veni, vidi, vici.

Der Bergbau, die Kameralwissenschaften, das Studium der Philosophie – weg damit! Kein blinder Maulwurf, kein fleißiger Beamter, ein kränkelnder Grübler gar – nein! Dichter, Dichter wollte er werden, nur um der Poesie willen war er in die Welt gekommen. Ein Dichter wollte er sein, ohne ablenkendes Amt, frei, unabhängig. Groß wie des Vaters Freund.

Vom Postplatz, wo die Kutsche hielt, war es nicht weit zu der Herberge, die man ihm empfohlen hatte. Er nahm einen Fiaker und fuhr zum Köllnerhof. Da war ein Zimmer frei, vier Treppen hoch, ein Schlauch von zehn Schritt Länge und vier Schritt Breite. Nicht gerade herrschaftlich eingerichtet, aber ein hübsches Mädchen war ihm die Treppe voraufgegangen und hatte ihm mit einem anmutigen Knicks die Tür geöffnet. „Der Herr Student muss sich gleich bei der Polizei anmelden.“

„Gut, ich gehe morgen hin.“

Doch sie erklärte, dass es noch am heutigen Tage geschehen müsse. Die Polizei sei streng. „Ist der Herr Preuße?“

Bei Gott nicht. Und er hielt sich auch einiges zugute, darauf, keiner zu sein, sondern ein Sachse. Schön, zur Polizei geht er, ja, heute noch. Ihr zuliebe. Sind die Väter auch so streng in Wien wie die Polizei? Sie machte einen Knicks, sah an ihm herab. Er missdeutete den Blick, glaubte, das gelte seiner stattlichen Erscheinung. Das war er gewohnt. Aber sie dachte: Was trägt man in Sachsen für altmodische Kleider!

Körner packte seine wenigen Habseligkeiten aus dem Reisekoffer und hängte die Gitarre an einen Haken. Der Rest sollte nachkommen, Bücher, Wäsche. Dann machte er sich frisch, verließ sein Zimmer und stieß, als er um die Ecke zur Treppe ging, mit einem anderen Herbergsbewohner zusammen. „Pardon!“, bat er, sah den Mann an, der blickte ihn an, verblüfft beide, und jauchzend fielen sie sich in die Arme.

„Mordechai, du hier?“ Und: „Körner, alter Hosenhuster!“

Das war ein Wiedersehen wie ein Fest. Keiner hatte gewusst, was aus dem anderen nach Leipzig geworden war. Dass sie sich hier begegneten, in Wien – nein, die Welt war ein Dorf.“

Erstmals 1987 erschien ebenfalls im Verlag der Nation Berlin „Adler mit gebrochenem Flügel. Roman um Ernst Moritz Arndt“ von Ulrich Völkel: Ernst Moritz Arndt, Sohn eines Leibeigenen, der sich zum Professor für Geschichte hochgearbeitet hat, flieht 1812 vor Napoleon nach Russland. Der Freiherr vom Stein hat ihn, der durch seine volkstümlichen Lieder, Schriften und Reden gegen die Fremdherrschaft aufzurütteln vermag, nach St. Petersburg gerufen. An der Seite des berühmten Staatsmanns und Politikers wird Arndt Mitstreiter im großen Kampf der Völker: er ist erschüttert, aber nicht entmutigt durch die Nachricht vom Brand Moskaus, er wirkt mit bei der Gründung der Russisch-Deutschen Legion und erlebt, mit dem Freiherrn vom Stein unmittelbar hinter den geschlagenen Truppen Napoleons nach Deutschland zurückkehrend, das Elend der sich auflösenden einstigen Großen Armee. Ulrich Völkel schildert nach seinem erfolgreichen Theodor-Körner-Roman „Mit Leier und Schwert“ das wechselvolle Schicksal Ernst Moritz Arndts, Glück und Leid eines aufrechten Mannes, der wie Körner während des Befreiungskriegs den Höhepunkt seiner Laufbahn erfährt, dann aber, verfolgt und verfemt wie viele Patrioten, zum Adler mit gebrochenem Flügel wird.

In diesem Ausschnitt aber erleben wir einen ebenso couragierten wie diplomatischen Mann, der keine Angst vor deutschen Fürsten hat:

„Der Herzog hatte nicht die geringste Lust, Ernst Moritz Arndt zu empfangen. Er hatte sich auch nie die Mühe gemacht, dessen Schriften zu lesen. Es war ihm berichtet worden, dass dieser Plebejer nur deshalb nicht das Lied der französischen Jakobiner sang, weil er einen eigenen Text gegen die gottgewollte Ordnung gezimmert hatte. Aber er war der neue Günstling Steins, gegen den man sich schwerlich stellen konnte. Der Herzog trank gemächlich die Schokolade aus und befahl dann seinem Diener: „Soll eintreten!“

Arndt war gewarnt durch Stein, und deutschen Fürsten gegenüber verhielt er sich ohnehin skeptisch. Dennoch schuf die Tatsache, dass der Herzog ebenso wie er von Napoleon vertrieben worden war, ein Gefühl der Verbundenheit. Außerdem hatte er in Smolensk am Tisch des Sohnes gesessen und erlebt, dass der Feuer und Flamme für die vaterländischen Dinge war.

„Durchlaucht, ich bringe Ihnen die herzlichsten Grüße des Prinzen August. Er erfreut sich bester Gesundheit und brennt darauf, für die Ehre Deutschlands zu kämpfen.“

Die Grüße stimmten den Alten versöhnlich. „Nehmen Sie Platz, meine Herren“, forderte er Arndt und Stülpnagel auf. „Nun, wie steht es daheim?“ wandte er sich an Arndt.

„Das Volk besinnt sich auf seine Kraft, Durchlaucht.“

„Aha, das Volk“, konstatierte der Herzog gleich wieder grantig. „Die Fürsten müssen die Sache in die Hand nehmen, wenn etwas daraus werden soll. Was hat das französische Volk für ein Ungeheuer gezeugt mit seiner Revolution?“

„Nur dadurch, dass die Völker die Fesseln zerbrechen, erretten sie die Fürsten selber vom Untergang, Durchlaucht“, erwiderte Arndt ohne Zögern, fügte aber hinzu: „Sie und Ihre Söhne sind deutsche Fürsten, wie sie das Vaterland braucht. Und wären sie alle so, dann könnten sie das Vaterland auch wirklich führen.“

Stülpnagel hatte die Luft angehalten, während der Professor sprach. Alle Achtung, der Mann hatte Courage und war zugleich diplomatisch.

Der Herzog ließ sich durch die Anerkennung Arndts nicht beirren. „Nein“, sagte er entschieden, „nicht das Volk, die Handwerker, Studenten, Bauern und Tagelöhner oder was immer das sein soll — der Adel ist zur Führung berufen. Das ist unser Auftrag von Gott. Gestützt auf die Kräfte der Untertanen, werden wir unser Territorium zurückgewinnen. Ich setze auf das Prinzip der Legitimität. Alles andere, Herr Arndt, ist jakobinisch und also von Übel.“

„Ich denke“, erwiderte Arndt ruhig, „dass das Haus Oldenburg wegen seiner Weisheit und Sittlichkeit völliges Vertrauen verdient, dass aber seine Kraft schwerlich hinreicht, um die Regenten anderer deutscher Häuser für denselben Weg zu gewinnen.“

Der Oldenburger lächelte ein wenig und erwiderte: „Von Diplomatie verstehen Sie entschieden mehr als Stein. Schmiert mir Honig ums Maul und lässt unter der Hand die Bienen los.“

Aber das Lächeln hielt nicht lange vor. Mit dem Stolz eines regierenden Herzogs fragte er: „Was sollte die deutschen Fürsten hindern, einheitlich zu handeln? Vielmehr bezweifle ich die Fähigkeit der Untertanen, geschlossen gegen einen Mann zu stehen, der die alten Gesetze umgestoßen hat und dessen neue anzunehmen sie gar nicht so abgeneigt sind. Wo sind Ihre Freiwilligen, Herr Arndt? Wer eilt zu unserer Legion? Nein, Napoleon hat die Fürsten, die sich ihm nicht unterwarfen, vertrieben und seine Brut auf unsere Throne gesetzt. Das mag Unruhe hervorgerufen haben bei den Untertanen, aber untertan sind sie geblieben. Wir deutschen Fürsten werden es sein, die das angestammte Land zurückerobern!“ Der Herzog war erregt im Zimmer auf und ab gegangen, hatte mit dem Stock gefuchtelt und musste sich nun erschöpft setzen.

Arndt war zu klug, um nicht einzusehen, dass die Auffassungen des Oldenburgers einer gewissen Logik nicht entbehrten, aber sie widersprachen seiner Überzeugung. „Ich befürchte, dass sich mancher deutsche Fürst nur um sein eigenes Fürstentum sorgt, Durchlaucht“, hielt er dagegen, „und nach einem Sieg über Napoleon vor allem darauf bedacht sein wird, sein Territorium zu vergrößern.“

„Unterstellen Sie mir solche Lust, Herr Arndt?“, fuhr ihn der Herzog an.

„Nein, Durchlaucht, ich habe keinen Grund, Ihnen dergleichen zu unterstellen. Ich wäre sonst nicht hier.“

Der Herzog beherrschte seinen Ärger so weit, dass er seine Vorbehalte gegen Arndt scharf und klar zu äußern vermochte. „Napoleon ist Ihnen nur ein Vorwand. Sie meinen die deutschen Fürsten! Und haben Sie das Volk, wie Sie es nennen, erst einmal gegen den Kaiser der Franzosen geführt, wie groß ist dann der Schritt, es gegen die eigenen Herren zu verführen?“

Daran hatte Arndt nie gedacht. Es ging ihm ums Vaterland, in dem Fürsten wie Untertanen ihre angestammten Plätze haben sollten. Nicht gegen den Adel und seine Stellung richtete sich sein Zorn, sondern gegen jene Landesherren, die das Recht zu herrschen verwirkt hatten, indem sie Napoleon willig gefolgt waren. „Man jakobinisiert nicht die besetzten Länder, aber man organisiert die bewaffneten Massen“, zitierte er den Freiherrn vom Stein.

Den Text kannte der Oldenburger, und er begriff, dass Arndt keinen Schritt über die Auffassungen des Freiherrn hinausgehen konnte, selbst wenn er es wollte. Stein hat sich eine bissige Dogge zugelegt, dachte der Oldenburger, die bellen soll, aber nicht beißen darf. Und er hat ihn zu mir geschickt, weil er mich ein wenig aufschrecken will; denn es geht ihm mit der Legion zu langsam. Das verstanden zu haben erheiterte den schlauen Fuchs.

„Ich freue mich, Sie kennengelernt zu haben“, sagte der Herzog und beendete damit die Audienz. Arndt wusste, dass der Oldenburger nicht log, dass aber die Freude ihre engen Grenzen hatte. Sie verabschiedeten sich mit Respekt voneinander, wohl wissend, dass sie Verbündete waren, aber nur Verbündete auf Zeit.“

Erstmals 1993 veröffentlichte Ulrich Völkel im Verlagshaus Thüringen in Erfurt seinen Polit-Thriller „Der Tresor des Diktators“: Der Vizepräsident und der Chef des Geheimdienstes putschen gegen den Präsidenten der Republik, um einer drohenden Revolution zuvorzukommen. Der Coup gelingt. Aber wohin nun mit dem gestürzten Diktator? Er muss, wenn die Putschisten wenigstens scheinbar ihr Gesicht wahren wollen, vor Gericht gestellt werden. Aber welche Aussagen haben der ehemalige Vizepräsident, nunmehr selbst an der Macht, und der Chef des Geheimdienstes von ihrem Gefangenen zu erwarten? Sie entschließen sich zu einem Handel dergestalt, dass dem Gefangenen eine Villa in einem gutbewachten weitläufigen Park zur Verfügung gestellt wird, wo er ohne Rücksicht auf irgendwelche Personen seine Memoiren schreiben und in einem Safe bis zu seinem Tode verwahren kann; erst dann sollen sie veröffentlicht werden. Der Preis: die Aussagen vor Gericht müssen in den wesentlichen Punkten vorher vereinbart werden. Die nur mühsam kaschierte Drohung: geht der Gefangene nicht auf den Deal ein, wird er im Staatsgefängnis sehr lang auf seinen Prozess warten müssen. Der gestürzte Diktator ist ein alter Mann. Er willigt ein. Oberst Lu Mores vom Geheimdienst, ein integrer Mann, und Dr. Ines Rebelius, eine Historikerin, werden beauftragt, den Plan mit flankierenden Maßnahmen abzusichern. Sie wissen nichts von den wahren Absichten ihrer Auftraggeber; jedenfalls zunächst nicht. Am Tage des Prozessbeginnes feuert ein Scharfschütze auf den Anzuklagenden, als der das gepanzerte Auto verlässt, um seinen Richtern vorgeführt zu werden. Er ist sofort tot. Auf seinem Gesicht ein merkwürdig zufriedenes Lächeln. Wenige Stunden später geschieht ein weiteres Unglück. Die Ereignisse spielen nicht in Deutschland, auch nicht in einem Teil Deutschlands. Sie könnten sich beispielsweise in Südamerika ereignet haben. Oder in Afrika. Oder vielleicht doch in Deutschland? Völkel hat seinem Polit-Krimi einen bemerkenswerten Vorspruch vorangestellt: „In Ansehung jüngerer und jüngster Vorgänge sieht sich der Verfasser dieses Buches verpflichtet, unmissverständlich zu erklären, dass es sich bei dem vorliegenden Werk um eine reine literarische Erfindung handelt. Auch er ist bestürzt von der frappierenden Ähnlichkeit mit Vorgängen aus der Realität.“ Und so beginnt die Geschichte:

1. Kapitel

Der Platz der Republik, umgeben von imposanten, Macht protzenden, kalten Gebäuden aus weißem Marmor, blitzendem Stahl und getöntem Glas, füllte sich mit Menschen.

Der Präsident feierte seinen siebenundsiebzigsten Geburtstag. Das Volk war aufgefordert worden, dem Großen Vater, wie er sich gern nennen ließ, seine Glückwünsche darzubringen. Das Volk, stand in allen Zeitungen, liebt ihn und vertraut seinem Großen Vater. Der Geburtstag des Präsidenten, das hatte sich so ergeben, war gleichzeitig Nationalfeiertag. Es galt als widerspenstig, an diesem Tag einer anderen Beschäftigung nachzugehen denn einer Huldigung des Großen Vaters. Es war sogar gefährlich. Hundertschaften der Sicherheit patrouillierten durch die Straßen. Wer nicht zum Platz der Republik ging, wurde gefragt, ob er den Präsidenten nicht liebe. Der siebenundsiebzigste Geburtstag des Großen Vaters fiel auf den vierzehnten Jahrestag der Republik. Die Republik war eine Diktatur.

Der Platz war so angelegt, dass auch die mehr als hunderttausend Menschen, die sich auf ihm versammelten, das Gefühl haben sollten, eine homogene Masse zu sein, die, erschiene der Präsident nicht auf dem großen Balkon seines Palastes, hilflos, führerlos, eigentlich recht unglücklich war; eine Herde ohne Leittier, dem ungewissen Schicksal ausgeliefert ohne ihn. Der Palast selbst überragte alle Gebäude rundum. Das Licht der Sonne brach sich im chromblitzenden Stahl, in der blanken Verglasung und im gleißenden Gold des Staatswappens, das der Präsident selbst entworfen hatte.

Seit vierzehn Jahren beherrschte der Mann das Land. Sein Bild hing in allen öffentlichen Gebäuden, in jedem Zimmer, auf sämtlichen Fluren und Korridoren. Keine Tageszeitung wagte es, eine Ausgabe ohne sein Konterfei auf der Titelseite aufzumachen. Der GENERALANZEIGER DER REPUBLIK, das führende Organ, wurde von ihm persönlich redigiert. Der Präsident empfängt den König von … Der Präsident besucht eine Schule … Der Große Vater lächelt … Der Präsident hat gesagt … Das Volk liebte ihn nicht. Das Volk vertraute ihm nicht. Das Volk lebte in Furcht; denn die Sicherheit war allgegenwärtig. Nichts blieb ihr verborgen, alles wurde dem Großen Vater hinterbracht. Es kam vor, dass jemand in den frühen Morgenstunden in ein Auto steigen musste, weil er am Abend beim Bier eine Bemerkung gemacht hatte, die darauf schließen ließ, dass der Betreffende möglicherweise unzufrieden sein könnte. Er kam selten zurück. Und wenn er zurückkam, schwieg er fortan. Einem Fremden hätte auffallen müssen, dass viele in diesem Land schwiegen. Aber Fremde kamen selten ins Land. Und kamen sie doch, wurden sie stets von ortskundigen Führern begleitet, die anschließend einen ausführlichen Bericht mit neun Kopien abliefern mussten. Man merkte sich Fremde, die unbotmäßig auftraten. Vielleicht war das einer der Gründe, weshalb das Ausland nicht unbedingt mit Respekt, aber eigentlich auch nicht mit Verachtung von dieser Republik sprach, die, das wusste man natürlich, alles andere als eine Demokratie war. Das viel gebrauchte Wort Geborgenheit hatte einen seltsam bitteren Beigeschmack bekommen.

Das Volk hatte keinen Grund zu Unzufriedenheit, stand in allen Zeitungen zu lesen. Es gab reichlich zu essen, sogar sehr gesunde Kost. Jedem war das Recht auf Arbeit garantiert. Die Löhne konnten nicht übermäßig hoch genannt werden, aber das Volk war auf Luxus nicht aus, den es eh nicht zu kaufen gab.

Die besondere Aufmerksamkeit des Großen Vaters galt den Kindern. Und was man auch sonst über ihn sagen (oder lieber nicht sagen) konnte, Kinder liebte er, freilich auf seine Art. Er besuchte häufig Schulen oder Kindergärten und fand alles in bester Ordnung, denn seine Visiten wurden gründlich vorbereitet. Der Präsident liebte gesunde, sportlich durchtrainierte junge Menschen. In einem gesunden Körper wohnt ein gesunder Geist, zitierte er so oft, dass es bald als seine eigene Schöpfung zitiert wurde. Es war üblich, Aussprüche des Präsidenten, auch wenn es sich um bekannte Zitate handelte, in Leitartikeln und öffentlichen Reden zu wiederholen. Und wie unser geliebter Präsident so treffend sagt: Der Mensch lebt nicht von Brot allein. Zum Beispiel.

Dem Volk ging es gut, denn es hatte einen gütigen Vater. Das war so oft behauptet, geschrieben und festgeredet worden, dass es wahr sein musste. Der Präsident glaubte es jedenfalls.

Es muss aus Gründen objektiver Berichterstattung gesagt werden, dass die Revolution vor vierzehn Jahren einen Tyrannen gestürzt hatte. Das schreiende Elend der Massen war so unerträglich geworden, dass das Volk schließlich mit bloßen Fäusten, mit Knüppeln und Steinen, mit den Waffen der Straße auf die Soldaten losgegangen war, blutig zurückgeschlagen wurde und wahrscheinlich gänzlich zerschmettert worden wäre, wenn nicht ein in Ehren ergrauter Schreibstubengehilfe des Tyrannen in einem Anfall von Verzweiflung über die fahrlässige Tötung seines gänzlich unschuldigen Enkels durch betrunkene Soldaten mit einem Bürohocker und für alle Anwesenden unerwartet den Tyrannen erschlagen hätte, weil der eine abfällige und gemeine Redensart über den trauernden Großvater sehr zum Gaudi der ihn begleitenden Speichellecker gemacht hatte. Der Augenblick von Führerlosigkeit genügte, die nur auf die Person des Landesherren eingeschworenen Soldaten und Beamten mit einem letzten, zu aller Erstaunen unblutigen Angriff zu überrumpeln.

Der alte Mann, in dessen Schreibpult leicht widerspenstige Gedichte – oder besser: leicht als widerspenstig interpretierbar – gefunden wurden, denn er war ein heimlicher, leider nicht sonderlich begabter Poet, avancierte über Nacht zu einer Legende. Ein Held, ein Dichter des Widerstandes, ein unbestechlicher Charakter, von der Brutalität des Tyrannen gezeichneter, in seinen künstlerischen Talenten unterdrückter Protagonist der Freiheit. Es war nicht mehr auszumachen, wer ihn zum ersten Mal VATER genannt hatte, aber von Anfang an trug er diesen Namen wie eine besondere Auszeichnung. Niemand war geeigneter, den Willen des Volkes nach Gerechtigkeit und Demokratie unverwechselbarer zu präsentieren, als dieser mutige Mann, den sie fortan Vater nannten. Er wurde Präsident der Republik. Er regierte, wie er meinte, dass ein Land regiert werden müsste: mit Liebe, mit Sinn für Ordnung und Disziplin; mit Strenge, wo es not tat. Vielleicht hätte es sogar gelingen können, wenn er nicht begonnen hätte, an seine eigene Legende, und damit an seine Unfehlbarkeit zu glauben.“

Noch im vorletzten Jahr des vergangenen Jahrhunderts, also 1999, erschien erstmals im Rhino Verlag Arnstadt und Weimar die Erzählung „Daheim, in meinem fremden Land“ von Ulrich Völkel: Die künstlerische Leistung des Schriftstellers Ulrich Völkel liegt in der überzeugenden Darstellung eines jungen Arbeiters, den der gesellschaftliche Umbruch besonders abrupt trifft. Hier riecht nichts nach Bitterfelder Unkräutern, die am Wege welken. Die existenzielle Krise, in die der Völkelsche Protagonist durch den sozialen Erdrutsch gleich mehrerer Gesellschaftsordnungen gerät, zwingt ihn zu einer Rückschau. Das Leserinteresse für diesen Stoff steht in östlichen Regionen außer Frage. Er kann aber auch zum psychologisch-menschlichen Verständnis massenhafter östlich geprägter Biografien beitragen. Völkels Erzählung wäre übergreifend mit Salingers „Fänger im Roggen“ und Plenzdorfs „Neuen Leiden des jungen W.“ ins Verhältnis zu setzen, das Schicksal des jungen Mannes Otto Lehmann lässt wie die beiden Genannten kaum jemanden kalt.

Hier ein aussagekräftiger Ausschnitt, in dem der Held über die Motive seiner beabsichtigten Hochzeit an der Trasse spricht – und was andere dazu sagen:

„Mir ging mal wieder der Vers aus dem Russischbuch, der mit der Sache selber nichts zu tun hatte, durch den Kopf, immer wieder dieses: „Nina, Nina, tam kartina, eto traktor i motor. “ Mir fiel dabei ein, dass ich in letzter Zeit häufig russisch dachte, nicht nur sprach. Wenn ich mit Nina zusammen war, passierte das fast automatisch. Überhaupt hatten wir uns eine Sprache angewöhnt, die man vielleicht Pidgin-Russisch nennen sollte, wenn es das gibt, oder Trassen-Russisch. War ich in der Heimat, vermengulierte ich meine Sätze bewusst mit russischen Vokabeln, ein bisschen aus Angeberei, ein bisschen aus Spaß, manchmal völlig unbewusst. Es gab Leute, die nahmen das lächelnd hin, manche zeigten mir auch einen Vogel. Manche bekamen ein kommunistisches Leuchten, Schnatterinchen zum Beispiel war ganz hin- und hergerissen. Aber davon später, jetzt ist die Sache mit Matkas Piroggen und eigentlich die meines schwiegersöhnlichen Antrittsbesuches bei Ninas Eltern dran.

Mir war ziemlich mulmig, das wirst du verstehen. Eine Sache mit einem Mädchen anfangen ist das eine, aber dann, wenn Butter an die Fische kommt, wie man bei uns sagt, also wenn es richtig ernst wird, na, da kann einer schon das Zittern kriegen. Es ist etwas – lach’ mich ruhig aus, wenn du keine Ahnung hast, Alter -, es ist etwas Feierliches. Ich war dabei, mein Junggesellenleben aufzugeben und wirklich erwachsen zu werden. Das hat sie fertiggebracht, Nina, Ninotschka, mein Täubchen, Golubtschik moi.

Ich besorgte mir Blumen für Ninas Mutter. Ich kaufte eine Flasche vom besten Cognac, den wir in unserem Magasin hatten, für ihren Vater, den zukünftigen Schwiegervater. Und ich schmiss mich mächtig in Schale.

Wolfgang sagte schnodderig, als ich ihn um seine Meinung fragte, was man bei so einer Gelegenheit anzieht: „Blauhemd natürlich, Jugendfreund!“ Er hielt nicht viel von der Sache. „Ein bisschen heiraten macht Spaß, aber richtig mit Papieren und dergleichen? Junge, du begehst einen Fehler. Sowieso. Und Trassenhochzeit ganz besonders.“

Ich wusste an diesem Tag sehr genau, dass ich keinen Fehler machte. Ich ging hin, um bei Ninas Eltern um die Hand ihrer Tochter anzuhalten. Meinetwegen lach‘ darüber, es war mir ganz feierlich zumute, und das muss man in feierlichen Worten ausdrücken.

Aber was anziehen? Normalerweise, also in Deutschland, jedenfalls daheim, hätte ich mir einen Kulturstrick umgebunden und einen Anzug aus dem Schrank geholt. Blumen für die Schwiegermutter, klar. Ich besorgte mir welche vom Rynok, Gladiolen. Aber bei den Klamotten entschied ich mich für Jeans und dunkelblaues Hemd, darüber die ärmellose Trassenjacke. Rasiert und parfümiert stiefelte ich los, die anzüglichen Bemerkungen der Kumpels klangen mir noch lange in den Ohren. Inpro-Wolfgang hatte gegrinst. „Aber verwechsle nix, Alter. Die Blumen sind für die Mama, der Fusel für den Papa – und gepinselt wird heute nicht!“

Ich glaube, einige versteckten bloß ihren Neid hinter solchen blöden Witzen; denn was ich vorhatte, hätte der eine oder andere auch gern auf die Reihe gebracht. Ich war auf dem besten Wege, aus der Gemeinschaftszelle auszubrechen; denn wie immer man das auch verschönern und verkleistern wollte, auf Dauer ist ein solches Lager nur ein besserer Knast. Alles findet öffentlich statt. Irgendwann nervt das. Irgendwann kotzen dich die Kumpels an. Du bist ihnen rund um die Uhr ausgeliefert, schläfst mit ihnen in einer Bude, isst mit ihnen im gleichen Saal, arbeitest mit ihnen im gleichen Raum, sitzt mit ihnen am gleichen Tisch, lebst wie sie innerhalb eines eingezäunten Lagers, triffst sie, selbst wenn du alleine losgegangen bist, am Sonntagvormittag auf dem Rynok, weil – wohin sollst du sonst gehen am Sonntagvormittag? Hörst die gleichen blöden Witze, siehst die gleichen blöden Fressen, musst dich von diesem ewig blöden FDJ-Natschalnik berieseln lassen. Du hast keinen Platz, von dem du sagen kannst: das ist mein Revier und ihr steckt eure Nasen bitteschön in euren eigenen Dreck. Und wenn du scheißen gehst, hörst du den Kumpel auf dem Nachbarzylinder furzen. Irgendwann stumpfst du ab oder rastest aus. Die Romantik der ersten Wochen verbraucht sich schnell.

Bin ich deswegen unterwegs zu Ninas Eltern? Otto, befindest du dich auf der Flucht, weil du Angst hast, von diesem alltäglichen-allnächtlichen Trott aufgefressen zu werden wie von einem Monster? Willst du Nina heiraten, nur um etwas Eigenes zu haben, und wenn es der Stuhl ist, auf dem du sitzt? Dein Stuhl, kein Trassenmodell wie die tausend anderen hier, dein Bett, deine eigene Tasse. Und ins Handtuch ist nicht das Trassen-Emblem eingewebt, sondern Nina hat ihre Initiale hineingestickt, denn es ist Teil ihrer Aussteuer. Und den Kochtopf habt ihr euch gemeinsam gekauft. Ist es das?

Ist es das nur? Oder liebst du sie wirklich, willst du mit ihr leben, willst du mit ihr Kinder haben, willst du alt werden mit ihr, diesem fremden Wesen aus dem fremden Land mit der fremden Verwandtschaft? Otto, was hast du vor, was treibt dich, was soll daraus werden?

Ich weiß nicht, wie ehrlich man gegen sich selber sein kann. Es ist durchaus möglich, dass ich mir die Argumente so hingedreht habe, dass sie mir in den Streifen passten. Vielleicht denke ich mir auch heute nur, dass ich das damals gedacht habe. Eigentlich ging mir eine ganze Menge durch den Kopf, aber noch mehr durch den Bauch, ein Sammelsurium von Gedanken und Empfindungen der unterschiedlichsten Art. Wahrscheinlich, ja sehr wahrscheinlich habe ich herzlich wenig gedacht. Ich wollte Nina haben, ganz für mich allein. Der alte Trieb.

Inpro-Wolfgang hatte es scheinbar auf den Punkt gebracht, als ich ihm erzählte, dass ich Nina heiraten will. Er sagte: „Alter, du denkst mit dem Schwanz! Heirate sie ein bisschen, aber mach die Dummheit nicht, die schon ein paar Idioten vor dir gemacht haben. Du hast dich für drei lange Jahre an die Trasse verpflichtet. Und dann? Hierbleiben willst du ja hoffentlich nicht. In diesem Land kann keiner von uns auf Dauer leben. Willst du sie mitnehmen, aus ihrem heimischen Boden reißen und zu Hause in deinem Garten wieder einpflanzen? Ich meine“, und dabei sah er mich gar nicht mehr spöttisch, sondern verdammt ernst an, „hast du schon einmal über sie nachgedacht, über ihre Gefühle und Empfindungen, über die Folgen für Nina?“

„Wofür hältst du mich, Alter? Ich liebe Nina, ob das nun in deine hohle Rübe reingeht oder nicht. Ich werde sie heiraten und mit ihr leben und mit ihr Kinder haben. Wir sind nicht die ersten, die einen solchen Versuch unternehmen und eine Familie gründen. Oder bist du bloß neidisch, weil du keine findest, die dich auf Dauer erträgt?“

Ich wusste, dass das ungerecht, dass es sogar gemein war, aber ich hatte keine Lust, ihm Fragen zu beantworten, die ich mir selber noch nicht gestellt hatte. Mir war nicht nach Analyse zumute und schon gar nicht nach Selbstbefragung. Ich will Nina haben. Schluss. Aus. Feierabend.“

Schluss. Aus. Feierabend. Und damit sind wir auch am Ende unserer heutigen zeitreisenden Bücher-Auswahl angelangt, die alle auf ihre Weise irgendwie mit der Liebe zu tun haben – von der Liebe im Allgemeinen und Im Besonderen wie bei Alphonse Allais über die Liebe zum Vater- und Heimatland wie bei Theodor Körner und Ernst Moritz Arndt bis zur Liebe zu Nina wie Otto Lehmann. Und mal ehrlich und überhaupt, gibt es etwas Schöneres und Menschlicheres als die Liebe?

Und wenn es die Liebe zu den Büchern ist. In diesem Sinne viel Spaß beim Lesen, einen schönen kurzen Rest vom März und bis demnächst – im April.

Über die EDITION digital Pekrul & Sohn GbR

EDITION digital wurde vor 24 Jahren gegründet und gibt neben E-Books (vorwiegend von ehemaligen DDR-Autoren) Kinderbücher, Krimis, historische Romane, Fantasy, Zeitzeugenberichte und Sachbücher (NVA-, DDR-Geschichte) heraus. Ein weiterer Schwerpunkt sind Grafiken und Beschreibungen von historischen Handwerks- und Berufszeichen sowie Belletristik und Sachbücher über Mecklenburg-Vorpommern. Insgesamt umfasst das Verlagsangebot, das unter www.edition-digital.de nachzulesen ist, derzeit fast 1000 Titel (Stand März 2019).

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