Eine Klassenfahrt nach Venedig
Diese Gondel vergleich‘ ich der sanft einschaukelnden Wiege,
Und das Kästchen darauf scheint ein geräumiger Sarg.
Recht so! Zwischen der Wieg‘ und dem Sarg wir schwanken und schweben
Auf dem großen Kanal sorglos durchs Leben dahin.
Venetianische Epigramme
Der Dichterfürst war nicht zu bremsen. Hals über Kopf war er mitten in der Nacht aus Karlsbad geflohen, ohne seinen Freunden ein Wort zu sagen. In München kann sich der gebildete Besucher in der Antikensammlung kaum konzentrieren. Für den Gardasee, Verona, Vicenza, Padua genügen Goethe wenige Tage. Erst in Venedig hält er zum ersten Mal für länger inne. Ein Kindheitstraum war wahr geworden. Eine Generation vorher hatte Goethes Vater bereits Italien bereist. Das spektakulärste Mitbringsel war das Modell einer Gondel, die auf dem Kamin stand und den junge Johann Wolfgang träumen ließ. Doch erst als wohlbestallter Geheimer Rat rückte sein Traum näher.
Der Frust treibt ihn nach Süden
Dabei hatte er seinen Arbeitgeber, Herzog Karl August nicht einmal um Erlaubnis gefragt, geschweige denn informiert. Aber der Frust über seine dröge Tätigkeit ist stärker. Er, der erfolgreiche Dichter schlägt sich mit Rekruten herum, die partout nicht ins Heer wollen. Er muss Gärten anlegen und untersuchen, weshalb im Bergwerk von Ilmenau schon wieder unter Wasser steht. Seit fast 10 Jahren war seine Kreativität auf fast Null gefallen. Er muss ins Land, wo die Zitronen blühen.
Damit ihn nichts und niemand aufhält, legt er sich ein Pseudonym zu: Giovanni Filippo Möller Kaufmann aus Leipzig. Es hätte ja sein können, dass man den Reisenden, dessen „Werther“ in schon in ganz Europa gelesen wurde, erkannte und bedrängte. Dann wüsste man bald auch in Weimar Bescheid.
Als er am 2. September 1786 die Postkutsche besteigt, riskiert er nicht nur das Wohlwollen seiner Freunde, sondern auch seine Karriere. Tatsächlich bringt ihm dieser Abschied den Hader seiner Busenfreundin Charlotte von Stein ein. Aber die Anziehungskraft des Südens ist stärker und entsprechend sein Jubel, als er nach 10 Tagen in der Lagunenstadt ankam: So stand es denn im Buche des Schicksals auf meinem Blatte geschrieben, dass ich 1786 den achtundzwanzigsten September, abends, nach unserer Uhr um fünfe, Venedig zum ersten Mal, aus der Brenta in die Lagunen einfahrend, erblicken und bald darauf diese wunderbare Inselstadt, diese Biberrepublik betreten und besuchen sollte. So ist denn auch, Gott sei Dank, Venedig mir kein bloßes Wort mehr, kein hohler Name, der mich so oft, mich den Todfeind von Wortschällen, geängstigt hat".
Und nun taucht wieder die Gondel seines Vaters aus Kindheitstagen auf: Mein Vater besaß ein schönes mitgebrachtes Gondelmodell; er hielt es sehr wert, und mir ward es hoch angerechnet, wenn ich einmal damit spielen durfte. Die ersten Schnäbel von blankem Eisenblech, die schwarzen Gondelkäfige, alles grüßte mich wie eine alte Bekanntschaft, ich genoss einen langentbehrten freundlichen Jugendeindruck.
Statt Gefängnis mit der Gondel in die Lagune
Dabei wäre dieses „Blatt des Schicksals“ fast nicht geschrieben worden. In Malcesine am Gardasse wird der Dichter als Spion festgenommen, weil der die Burg zeichnet. Zum Glück springt ihm ein ehemaliger Gastarbeiter zur Seite und erklärt dem Bürgermeister, dass dies kein Kundschafter Österreichs, sondern ein braver Bürger aus Frankfurt sei, wo er selbst viele Jahre arbeitete.
Anders als die hektischen Touristen von heute nimmt sich der Dichter volle 17 Tage Zeit, wobei jeder Tag voll ist mit Besichtigungen, Theaterbesuchen, Gesprächen, privaten Studien. Die fremde Sprache bereitet ihm kein Problem, schließlich war vom italienbegeisterten Vater ein entlaufener Mönch als Sprachlehrer für Johann Wolfgang und seine Schwester Cornelia ins Haus gerufen worden. Mehr als jeder heutige Tourist verfolgt Goethe das Werden der Serenissima, er wollte dieses Gemeinwesen inmitten der Laguna verstehen. Das menschlich interessanteste was ich auf der Reise fand, war die Republik Venedig, nicht mit den Augen des Leibes, sondern des Geistes gesehen, schreibt er an seine Freunde in Weimar, die nun gespannt die Route des Italienreisenden anhand von dessen Briefen verfolgen.
Mit der Unterkunft ist er zufrieden. Seine Pension „König von England“ liegt nicht weit vom Markusplatz und bietet einen schönen Blick auf die Kanäle. Da er mit dem Burchiello, einem bedeckten Ruderboot über den Brenta-Fluss angereist war, konnte er sich bereits vorher mit den Sommervillen der Dogen- und Patrizierfamilien entlang des Kanals vertraut machen. Übrigens ist es dem Dichter aus Deutschland erst hier zum ersten Mal vergönnt, das Meer zu betrachten. Sofort fährt er mit einer Gondel hinaus: Nachdem ich müde geworden, setzte ich mich in eine Gondel… und fuhr… bis gegen den Markusplatz und war nun auf einmal ein Mitherr des Adriatischen Meeres, wie jeder Venezianer sich fühlt, wenn er sich in seine Gondel legt. Ich gedachte dabei meines guten Vaters in Ehren, der nichts Besseres wußte, als von diesen Dingen zu erzählen.
Für die Venezianer – zuviele turisti
Auch heutige Jugendliche finden es reizvoll, die Rialto-Stadt auf den Spuren des Dichterfürsten zu durchstreifen und Goethes Erlebnisse mit dem Trubel von heute zu vergleichen. Auch wenn die Stadt zum Publikumsliebling geworden ist, in der auf 50.000 Einwohner mehr als 20 Millionen Besucher kommen. Dabei werden viele der Tagesbesucher von den großen Kreuzfahrtschiffen ausgespuckt. Kaum einen oberflächlichen Hauch bekommen diese turisti von der Stadt mit und verschwinden vor dem Abendessen wieder in ihrem Riesenkahn. Kein Wunder, dass sich in der Bevölkerung nun Unmut breit macht. Diese Leute bringen Lärm, Müll und Gedränge in die Stadt und lassen höchstens ein paar Euros für Souvenirs und einen Cappuccino liegen. Dabei ist die Faszination der Stadt bei Deutschen weiterhin ungebrochen, wie die Beliebtheit der deutschen (!) Verfilmungen von Dona Leons Büchern und des pfiffigen Commissario Brunetti zeigen.
Carlo Goldoni zeigt Goethe seine Stadt
Unser Weg mit Goethe führt uns zum Glück in Winkel und Plätze, die weitab der touristischen Rennstrecken liegen. Wir schlagen allerdings vor, zur Vorbereitung eine oder mehrere Villen am Brenta zu besuchen. Die Villen Villa dei Pisani, Villa Widmann und die Villa Foscari Malcontenta sind Besuchern zugänglich. Ihr Besuch erlaubt uns, den Reichtum und die Prachtentfaltung der venezianischen Adeligen mitzuerleben, die hier ihre Villeggiatura verbrachten. Hautnah erleben wir deren Dolcefarniente, wenn wir uns ein Kapitel aus einer von Carlos Goldonis Komödien vornehmen. Goethe war nicht nur ein begeisterter Zuschauer von Goldonis Stücken im Theater San Luca in Venedig, sondern inszenierte sie auch selbst als Theaterdirektor von Weimar. Selbstverständlich besuchen wir auch dieses Theater, das sich heute Teatro Goldoni nennt und die Casa di Goldoni, in der der Dichter geboren wurde.
Den Rundgang in der beginnen wir mit Santa Maria Gloriosa, wo die prächtige Himmelfahrt Mariens von Tizian auf uns wartet. Goethe hatte auf seiner bisherigen Reise gezielt die Gemälde des von ihm wegen seiner Klarheit sowie seines Kolorits geschätzten Meisters aufgesucht. Später besaß der Dichter in seiner Graphiksammlung über 80 Kupferstiche dieses Malers.
Zuerst die Kunst und die Musik…
In der Accademia begeistert Goethe die Fassade des Klosters „della Carità" am Südufer des Canal Grande. Diese Galerie beherbergt heute die weltweit größte Sammlung venezianischer Malerei von der Gotik bis zum Rokoko. Wie Goethe erfahren nun auch wir, welch wichtige Rolle eine scuola im Leben der Stadt spielte. Die um 1343 gegründete Scuola della Carità war keine Schule, sondern eine kultisch, wirtschaftlich und politisch ausgerichtete Bruderschaft, die neben karitativen Aufgaben die bedeutendsten Förderer der Künste waren. Die Scuola della Carità besitzt noch immer das von ihr in Auftrag gegebene monumentale Bild Tempelgang Mariens von Tizian.
Nun begnügt sich Goethe aber nicht mit der Kunst, er will die Stadt mit allen Sinnen erfassen. Dazu gehört die Musik und so lauscht er einem Oratorium in S. Lazzaro dei Mendicanti und schreibt begeistert die Musik sehr schön und herrliche Stimmen. In einer Zeit, als es weder Tonträger noch Streaming gab, wünscht er sich: Wenn man nur so einen Eindruck im Ohre behalten könnte!
Zur Musik gehört für den Dichter selbstverständlich auch der Gesang der Gondolieri. Zwar muss er sich mit um den Preis zanken, doch dann genießt er die Fahrt in die Laguna: Bei Mondenschein bestieg ich eine Gondel, einen Sänger vorn den andern hinten die ihr Lied anfingen und abwechselnd Vers nach Vers sangen.
… dann Technik, Theater und Architektur
Nun war der Geheimrat aus Weimar ein Mensch, der intensiv die Entwicklung der damaligen Technik und Naturwissenschaften verfolgte. Der Verfasser von Arbeiten über Geologie, Optik, Botanik schätzte seine naturwissenschaftlichen Schriften höher ein als sein gesamtes dichterisches Schaffen. So führt sein Weg auch zum Arsenal, das ihn besonders interessierte, da ich noch kein Seewesen kenne. Schließlich verdankte die bedeutendste Handelsstadt Europas ihren Reichtum der Qualität der Schiffe und er guten Organisation des Orienthandels. Hier bestaunt Goethe das letzte Exemplar des Bucintoro, einer zweigeschossigen Prunkgaleere, auf der am Himmelfahrtstage der Doge aufs Meer hinausfuhr, um sich durch Versenkung eines Ringes mit ihm aufs neue zu vermählen.
Goethe, als Leiter des Theaters von Weimar nimmt sich vor, hinter die Kulissen des hiesigen Theaterbetriebes zu schauen. So spricht er mit Theaterleuten, Schauspielern und staunt über die Begeisterung des Publikums. Gestern war ich in der Komödie, Theater St. Lukas, die mir viel Freude gemacht hat, ich sah ein extemporiertes Stück in Masken, mit viel Naturell, Energie und Bravour aufgeführt,…Mit unglaublicher Abwechslung unterhielt es mehr als drei Stunden, die Zuschauer spielen mit, und die Menge verschmilzt mit dem Theater in ein Ganzes. Goethes Vision: dass ich mit dieser Truppe und vor diesem Volke, wohl meine Iphigenie spielen wollte.
Unseren Schulgruppen schlagen wir den Besuch der Accademia Teatrale Veneta auf der vorgelagerten Insel Giudecca vor. Diese Theaterschule widmet sich der Ausbildung von Schauspielern für sie Commedia dell`Arte, die in Italien immer noch lebendig ist.
Goethes Leidenschaft für die Architektur zeigt seine vielfältigen Interessen. Schon vor der Reise hatte er intensiv das Werk des Architekten Andrea Palladio studiert. Auf der Fahrt erstanden er dessen Werk und studierte fast alle seine Bauten. Auf der vorgelagerten Insel Giudecca hat es ihm die Kirche „Il Redentore" von Palladio angetan. Als ihm später der Herzog von Weimar den Bau eines Hauses im Park übertrug, baute er im Stil Palladios ein „römisches Haus" für seinen Fürsten, so dass ein Hauch von Venedig in das thüringische Kleinstädtchen kam.
Spaghetti con vongole wie Goethe
Der Besuch des Ghetto (bei Goethe „Judenviertel“) schließt den Rundgang ab. Hier werden Erinnerungen an Shakespeares Skylock wachgerufen.
Insgesamt nimmt das vorliegende Programm zwei Tage in Anspruch. Wir können aber auch – wie Goethe – mit dem Schiff in Richtung Chioggia fahren, das wie Venedig als Lagunenstadt auf Holzpfählen errichtet wurde. Dort ist Italiens größter Fischmarkt. Goethe fuhren mit dem Boot hinüber zur Insel Pellestrina, ging auf den murazzi, (Schutzmauern) spazieren und schaute den Muschelfischern zu. Sofort kommt sein Interesse an der Biologie zum Durchbruch. Er will unbedingt mehr über diese Tierchen wissen: Was ist doch ein Lebendiges für ein köstliches, herrliches Ding! Wie abgemessen zu seinem Zustande, wie wahr, wie seiend! Wieviel nützt mir nicht mein bisschen Studium der Natur, und wie freue ich mich, es fortzusetzen!
Er lässt uns nicht wissen, ob er die Hauptspezialität von Chioggia genoss: spaghetti alle vongole. Auf alle Fälle gibt es hier reichlich Tavernen, die dieses Erlebnis zum – auch für Schüler – günstigen Preis anbieten.
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